Reizsyndrom im Verdauungstrakt: Wenn der Darm das Gleichgewicht verliert

Manchmal, sagt der Koblenzer Gastroenterologe Dr. Albin Lütke, würde es Reizdarmpatienten schon ein wenig helfen, wenn sie beim Essen Messer und Gabel neben den Teller legen, den Mund schließen, langsam kauen und das Besteck erst wieder heben, wenn sie das Essen heruntergeschluckt haben.

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Von unserem Redakteur Christian Kunst

Doch in einer Fast-Food-Gesellschaft, weiß Lütke, ist für so viel Achtsamkeit beim Essen wenig Platz. Der Fernseher läuft, das Smartphone blinkt, und gesprochen wird auch gern und viel, während man das Schnitzel in den Mund schiebt. „Dadurch gerät viel Luft in den Darm, was zu Blähungen führt.“ Rastloses Essen ist nicht die Ursache für das Reizdarmsyndrom, unter dem schätzungsweise bis zu jeder fünfte Deutsche leidet, doch es hat die Symptome in den vergangenen Jahren verschärft, berichten Mediziner wie Lütke.

Mehr als jeder zweite seiner Patienten, sagt der Arzt, hat unspezifische Bauchschmerzen. Durchfall, Verstopfung (auch im Wechsel), Schmerzen im Bauch, oft ein geradezu überfallartiger Stuhlgang – eines oder alle dieser Symptome quälen seine Patienten, darunter doppelt so viele Frauen wie Männer. Das Problem für Spezialisten wie Lütke ist, dass die Symptome auch auf andere Krankheiten hinweisen können, von einer Nahrungsmittelunverträglichkeit bis hin zu Krebs. Doch nur wenn die Krankheit keine organisch nachweisbare Komponente hat, wenn also endoskopisch keine Schädigung im Darm erkennbar ist, dann kann die Diagnose Reizdarmsyndrom lauten.

Andere Erkrankungen ausschließen

Die Folge: Die Ärzte müssen zunächst alle möglichen anderen Erkrankungen ausschließen. Das erfordert eine umfangreiche Diagnostik, die aber innerhalb einer Woche zu bewältigen ist, sagt Prof. Dr. Michael Jung, Chefarzt für Innere Medizin und Gastroenterologie am Katholischen Klinikum in Mainz. Der obere und untere Verdauungstrakt werden mit einem Ultraschallgerät untersucht, Magen und Darm werden gespiegelt, Gewebeproben entnommen, ein Gesamtlabor wird gemacht. Insbesondere bei Frauen fällt Jung immer wieder auf, dass ein Eierstockkrebs ähnliche Beschwerden wie ein Reizdarm verursacht. Dies kann durch eine solche umfangreiche Diagnostik ausgeschlossen werden. Hinzu kommt, dass die Beschwerden bereits seit drei Monaten aufgetreten sein müssen – nur dann spricht man nach internationalen und deutschen Leitlinien von einem Reizdarmsyndrom.

Und es gibt Indizien, die Ärzten wie Jung und Lütke einen Hinweis darauf geben, dass Patienten einen Reizdarm haben: eine überstandene Infektion. So hat eine Befragung der 2011 mit dem Darmkeim Ehec infizierten Patienten ergeben, dass 20 bis 30 Prozent von ihnen ein Jahr nach der Infektion unter heftigen Nachwehen litten, sagt Jung. Was war passiert? Der Mediziner erklärt dies so: Durch die Infektion – dies kann auch eine normale Grippe sein – wird die Dickdarmflora empfindlich gestört. Es entsteht ein gewaltiges Durcheinander in der Gesamtheit der Darm-Mikroorganismen, Mikrobiom genannt. Insbesondere betrifft dies die oberste Schicht, die nach der Infektion durchlässiger wird und weniger Schutz gegen eindringende Entzündungszellen bietet.

Die Folge: Die normalerweise unter einer schützenden Schicht liegenden Nervenzellen werden immer wieder irritiert. Diese Zellen geben dem Gehirn über das Rückenmark jedoch Signale, wann sich der Darm wie zusammenziehen muss, um das Essen vom Dünn- über den Dick- in den Mastdarm weiterzuleiten. Der Darm gerät aus dem Gleichgewicht, die Geschwindigkeit seiner Kontraktionen verändert sich, und der Nahrungsbrei wird nicht mehr koordiniert transportiert. Sichtbar ist dies für den Arzt nicht, aber die Symptome sind da: Durchfall, Verstopfung und Bauchschmerzen.

Nicht immer ist ein Reizdarmsyndrom aber mit einer kurz zurückliegenden Infektion in Verbindung zu bringen. Laut Lütke kann diese sogar im Säuglingsalter vorgefallen sein, sodass Patienten oft über die Ursachen ihrer Beschwerden rätseln. Auch deshalb wurde lange Zeit vermutet, dass der Reizdarm Folge seelischer Probleme ist – schließlich schlagen einem diese gern mal auf Magen und Darm. Doch laut Lütke kann eine belastete Psyche die Symptome meist nur zusätzlich verstärken. „Wir sprechen eher davon, dass ein Reizdarmsyndrom somatopsychische Folgen haben kann. Das heißt, dass die körperlichen Beschwerden zu psychischen Problemen führen können.“

Intoleranzen geraten in den Fokus

Stattdessen gerät seit einigen Jahren eine weitere Ursache in den Fokus der Mediziner: Fodmap, fermentierbare Oligo-, Di- und Monosaccharide sowie Polyole. Das sind für den Darm schwer verdaubare Mehrfachzucker, Kohlenhydrate und Alkohole. Entweder hat der Darm zu wenig Fermente für die Verdauung, oder die Menge an Zucker ist einfach zu groß, erklärt Prof. Jung. Dies führt dazu, dass im Verdauungstrakt eine große Menge an Gas entsteht, was Blähungen auslöst, wodurch der Darm wiederum gereizt wird.

Intoleranzen nennen die Experten dieses Phänomen. Die bekanntesten Arten sind wohl die gegen Lactose (Milchzucker) und Fructose (Fruchtzucker). Solche Intoleranzen, berichtet Jung, haben im Zeitalter der Fast-Food-Generation zugenommen. „Beim Fast-Food-Essen ist der Zucker- und Fettgehalt deutlich zu hoch. Das ist keine ausgewogene Ernährung mehr, sondern eine völlig unangemessene Kalorienmenge für eine Mahlzeit.“ Die Fast-Food-Generation entlässt ihre Patienten.