Berlin

Piraten haben sich noch nicht entzaubert

Die Sensation wirkt noch immer nach. Der Wahlerfolg der Piratenpartei bei der Berliner Landtagswahl versetzte die Parteienlandschaft bundesweit in Aufruhr. Seither stehen die 15 Abgeordneten im Berliner Parlament unter Dauerbeobachtung.

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Berlin. Die Sensation wirkt noch immer nach. Der Wahlerfolg der Piratenpartei bei der Berliner Landtagswahl versetzte die Parteienlandschaft bundesweit in Aufruhr. Seither stehen die 15 Abgeordneten im Berliner Parlament unter Dauerbeobachtung.

Teils argwöhnisch werden die Neuen von den etablierten Parteien beäugt. Obwohl sie in Berlin bisher mehr mit personellen Skandälchen denn mit Inhalten auffielen, steigen ihre Umfragewerte in der Hauptstadt weiter.

Inzwischen haben die Piraten dort mit 14 Prozent die Linkspartei (10 Prozent) hinter sich gelassen. Bis zum Kopf-an-Kopf-Rennen mit den Grünen (16 Prozent) ist es nicht mehr weit. Mit Schonfristen und Anfänger-Boni allein ist das nicht mehr zu erklären.

„Wir müssen wohl etwas richtig machen“, sagt der 27-jährige Christopher Lauer und zieht dabei selbstbewusst eine Augenbraue nach oben. Anne Will nannte den gebürtigen Rheinland-Pfälzer einmal den „Oberpiraten“. An den medialen Auftritt hat er sich inzwischen gewöhnt. Manche sagen, er genieße ihn. Jetzt aber sitzt Lauer in seinem wenige Quadratmeter kleinen Büro im fünften Stock des Berliner Abgeordnetenhauses vor seinem Notebook. Bei der Arbeit.

Die ersten 100 Tage im Parlament sind überstanden. Das Zimmer wirkt wie gerade bezogen, Papiere und ein paar Bücher liegen auf einem Regal. Lauer versucht soeben, ein neues Telefon in Gang zu bringen. „Die Raumverteilung steht, wir arbeiten“, sagt er und es klingt ein wenig gereizt. Die Frage danach, ob die Piraten inzwischen angekommen sind im Politbetrieb geht ihm ganz offensichtlich auf die Nerven. „Wir erhöhen jetzt die Intensität“, erklärt er kurz angebunden.

Bisher waren vor allem die persönlichen Auseinandersetzungen unter den Berliner Piraten intensiv. Die Boulevard-Medien in der Hauptstadt stürzen sich mit Wonne darauf. Ihre eigene Transparenz wurde für die Neulinge im Polit- und Medienbetrieb schnell zur persönlichen Bewährungsprobe. Jeder, der wollte, konnte den Berliner Piraten via Internet und Live-Schaltung bei ihren Fraktionssitzungen und bei der Bewältigung ihrer ersten Personaldebatten zusehen. Die ersten Gehversuche der neuen jungen Truppe als Daily Soap?

„Wir gewähren Einblick in unsere politische Arbeit“, sagt Lauer. „Man muss doch eher fragen, warum die anderen Parteien immer noch eine Blackbox bleiben?“

Auch er selbst erlitt in aller Öffentlichkeit eine Niederlage. Lauer wurde doch nicht zweiter Fraktionschef neben Andreas Baum, sondern blieb normaler Abgeordneter. Einige Piraten hatten ihm Karrierismus, ja sogar Intransparenz vorgeworfen.

Die einzige Frau der Fraktion, die 19-jährige Susanne Graf, gerät kurz darauf in die Kritik, weil sie ihren Freund als persönlichen Referenten einstellt. Inzwischen hat sie ihm unter öffentlichem Druck wieder gekündigt. Auch über einen hässlichen Fall von Erpressung mit persönlichen Daten unter Piraten wurde berichtet. Lauer war einer derjenigen, die immer wieder anmahnten, es müsste nun endlich um Inhalte gehen.

Die Piraten, die sich 2006 in Deutschland gegründet haben, waren schon im Wahlkampf in der Hauptstadt für ihr Programm kritisiert worden. Zu schmal, realitätsfern, allenfalls Sparte, urteilten politische Beobachter und Gegner. Der Netzpartei, die anfangs ausschließlich als Verfechterin des freien Internets für alle von sich reden machte, haftete überdies der zweifelhafte Ruf der Spaßpartei an, die für die echten Probleme keine Lösungen hat. Forderungen nach einer kostenlosen U- und S-Bahn-Nutzung wurden belächelt, die nach einem bedingungslosen Grundeinkommen hatten auch schon andere formuliert.

Die Piraten sind „normale Menschen“, erklärt der Berliner Fraktionsvorsitzende Andreas Baum gern in Interviews. Und meint damit: Piraten dreschen keine Phrasen, sie können auch mal zugeben, etwas nicht zu wissen. Die Bürger sind der Politikersätze, die sie nicht mehr verstehen, überdrüssig. Davon sind Piraten überzeugt. „Solange wir ehrlich kommunizieren, können wir auch auf Verständnis hoffen“, meint Lauer. Er selbst ist bisher „sehr zufrieden“, auch inhaltlich.

Spähsoftware in Schulen hätte seine Fraktion vorerst verhindert. Außerdem haben die Berliner Piraten gerade eine Gesetzesinitiative für ein Wahlrecht ab 16 Jahren gestartet, und sie haben eine kleine Anfrage zur Videoüberwachung in der Stadt gestellt. Das Vokabular der täglichen politischen Arbeit geht inzwischen leichter über die Lippen als noch vor wenigen Monaten. „98 Prozent der Arbeit eines Abgeordneten ist das profane Wälzen von Akten“, erklärt Lauer und sieht dabei nicht aus, als habe ihn das unangenehm überrascht.

Trotz allen Aktenwälzens hatte Fraktionschef Andreas Baum zur 100-Tage-Bilanz auf viele Fragen keine Antworten. Das wird bei der nächsten Wahl zum Berliner Abgeordnetenhaus anders sein, ist Christopher Lauer sicher. „Ich bin halt guter Dinge, ne.“ Sie müssten jetzt alle einfach erst mal ihre Arbeit weitermachen.

Von Rena Lehmann