Berlin

18. Oktober 1989: Der Tag, an dem Honecker stürzte

Die Stimmung muss gespenstisch gewesen sein. In der SED-Führungsriege tobt ein erbitterter Machtkampf, im Land brodelt es. Überraschend trifft sich das Zentralkomitee der SED am 18. Oktober 1989 zu einer Sondersitzung. DDR-Staats- und Parteichef Erich Honecker wird gezwungen, seinen Rücktritt zu verlesen.

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Von Jutta Schütz

Der 77-Jährige bittet um Entbindung von all seinen Ämtern aus gesundheitlichen Gründen. Honecker schlägt Egon Krenz als seinen Nachfolger vor und geht vorzeitig. Er lässt sich in die Schorfheide zur Jagd fahren. Auch die Politbüro-Mitglieder Günter Mittag, zuständig für Wirtschaft, und Joachim Herrmann, verantwortlich für Agitation und Medien, verlieren an diesem Tag ihre Ämter. Damit ist das alte Machtzentrum um Honecker zerschlagen. Egon Krenz – einstiger Kronprinz Honeckers – übernimmt das SED-Spitzenamt.

Noch am Abend des 18. Oktober verkündet Krenz im DDR-Fernsehen eine „Wende“ und räumt ein: „Fest steht, wir haben die gesellschaftliche Entwicklung in unserem Lande nicht real genug eingeschätzt und nicht die richtigen Schlussfolgerungen gezogen.“ Das wird ihm auch in den folgenden Wochen nicht gelingen. Schon wenige Wochen nach dem Mauerfall, am 3. Dezember 1989, tritt das Politbüro des SED-Zentralkomitees mit Krenz an der Spitze geschlossen zurück.

Die „Wende“, sie hatte aus Sicht von Krenz ein klares Ziel: „Ich bin angetreten, um die DDR als souveränen Staat zu erhalten“, sagt der heute 77-Jährige im Gespräch. Dass es damals um das Ende des Arbeiter- und Bauernstaates gehen würde, daran hätten im Oktober 1989 weder Politiker der Bundesrepublik noch der DDR gedacht.

Doch kam das Ende tatsächlich so überraschend? Als Krenz an die Spitze von Staat und Partei aufsteigt – am 24. Oktober wird er auch Staatsratsvorsitzender -, haben schon Zehntausende DDR-Bürger das Land verlassen. Immer mehr Menschen gehen auf die Straße, fordern Freiheit und Demokratie. Doch die Führung der DDR stellt sich taub.

Es sei damals „eine Sprachlosigkeit“ im SED-Politbüro entstanden, das während Honeckers Krankheit bis Anfang Oktober von Mittag geleitet wurde. So räumt es Krenz, der heute im Ostseebad Dierhagen lebt, im Rückblick ein. „Dieses Politbüro wollte die tatsächliche Lage nicht zur Kenntnis nehmen. Dagegen haben sich manche gewehrt, aber leider nicht erfolgreich.“

Allerdings: Krenz gehörte selbst zum engsten Machtzirkel. Heute sagt er, er sei „in der ganz schwierigen Situation nicht vor Ort“ gewesen. Honecker habe ihn in den Urlaub geschickt. Von dort habe er in einem Brief an Honecker einen Dialog mit der Bevölkerung angemahnt. Das Papier sei später unkommentiert zurückgekommen.

Zu diesem Zeitpunkt war schon viel passiert. Zusätzliche Empörung in der Bevölkerung löste der Umgang mit den vielen Tausend Menschen aus, die der DDR bereits den Rücken gekehrt hatten. Noch Ende September ließ das DDR-Außenministerium ungerührt über die Nachrichtenagentur ADN verkünden, dass man den Flüchtlingen keine Träne nachweinen sollte – diese hätten sich selbst aus der Gesellschaft ausgeschlossen.

„Das war zynisch“, räumt Krenz heute ein. Er sei dafür eingetreten, die Ursachen für den Weggang so vieler junger Menschen in der DDR selbst zu suchen – und „nicht nur außerhalb der Grenzen“. Doch die Entwicklungen sind nicht mehr aufzuhalten. Neue Gruppierungen wie das „Neue Forum“ und die Sozialdemokratische Partei in der DDR entstehen.

Das Volk habe sich in jenen Tagen immer deutlicher von der Bevormundung durch die SED befreit, bilanziert die Bundesbehörde für die Stasi-Unterlagen heute. Zum Fanal werden schließlich die Feierlichkeiten zum 40. Jahrestag der Staatsgründung am 7. Oktober. Die Stasi-Akten-Behörde hat festgehalten, wie brutal Polizei und Staatssicherheit in Ost-Berlin in diesen Tagen gegen Demonstranten vorgingen. Allein am 7. und 8. Oktober wurden von rund 10 000 friedlichen Demonstranten 1071 festgenommen. Auch in Dresden kam es zu schweren Übergriffen der Polizei. In Leipzig hätten es die „Sicherheitsorgane“ dann am 9. Oktober nicht mehr gewagt, den friedlichen Massenprotest anzugreifen.

Viele der einst Verfolgten nehmen Krenz seine Reformerrolle bis heute nicht ab. Als der 77-Jährige kürzlich in Berlin sein Erinnerungsbuch vorstellte, schallten ihm Rufe wie „Lügen-Baron“ entgegen. „Die DDR war ein Unrechtsstaat“, sagt die einstige DDR-Oppositionelle Vera Lengsfeld. Krenz müsse sich nach seiner Rolle bei der Fälschung der Kommunalwahlen und seiner Haltung zum Massaker auf dem Platz des Himmlischen Friedens in Peking fragen lassen, sagt die 62-Jährige. Doch dem stelle er sich nicht.

Krenz sieht das alles ganz anders. Er empört sich bis heute darüber, dass DDR-Geschichte nicht differenziert behandelt werde. Seine Vision: „Die Geschichte ist nach vorn offen und der Kapitalismus ist nicht das letzte Wort der Geschichte.“