Als sich Volker Wissing vor 13 Monaten im Gespräch mit unserer Zeitung explizit für eine Alternativtrasse für Güterzüge durch den Westerwald und den Taunus aussprach, weckte das gewisse Hoffnungen für die vom Bahnlärm geplagten Menschen am Mittelrhein. Nun steht der inzwischen parteilose Politiker vor dem Abschied aus dem Bundesverkehrsministerium – einer neuen Bundesregierung wird er nicht mehr angehören. Verschwindet damit auch das milliardenschwere Trassen-Projekt im politischen Nirgendwo? Nicht unbedingt, erklärt das Bundesministerium für Digitales und Verkehr (BMDV) auf Anfrage unserer Zeitung.
Ein Ministeriumssprecher verweist auf die Machbarkeitsstudie, die im August 2023 veröffentlicht wurde. Darin sei eine Vorzugsvariante für eine alternative Trassenführung identifiziert worden, die auf Grundlage neuer Verkehrsprognosen bewertet werden könne. „Damit könnte bei entsprechender Verkehrsentwicklung das Gesamtvorhaben kostenoptimiert in aufeinander aufbauenden Ausbaustufen realisiert werden“, so der Sprecher weiter, der darüber hinaus ankündigt, dass das BMDV die Methodik der Bundesverkehrswegeplanung auf Basis künftiger Verkehrsprognosen und verkehrlicher Entwicklungen kontinuierlich an aktuelle wissenschaftliche Erkenntnisse anpassen werde.
Mehr Güterverkehr könnte Argument für Alternativtrasse liefern
Heißt also: Gibt es viel mehr Güterverkehr auf der Rheintalstrecke, könnte man bei der Kosten-Nutzen-Rechnung der Alternativtrasse zu einer neuen, positiveren Bewertung kommen. Die Studie war nämlich zu dem ernüchternden Ergebnis gekommen, dass keine der darin untersuchten Trassenvarianten derzeit wirtschaftlich zu realisieren sei.
Wobei sich gerade in Zeiten von Milliardenpaketen für die Infrastruktur die Frage stellt, was in diesem Zusammenhang unter Wirtschaftlichkeit zu verstehen ist – und welche Rolle der Mensch und sein Wohlbefinden dabei spielen beziehungsweise wie solche Faktoren zu beziffern sind.
„Wir wollen eine Lösung für das Mittelrheintal und halten darum an der Suche nach einer Alternative fest“, hatte Wissing im Februar 2024 gesagt. Der Bundesminister erklärte im Interview weiter: „Die Situation ist für die Anwohner vor Ort unerträglich.“
„Die fahren uns in Grund und Boden.“
Pro Rheintal schlägt Alarm.
„Bis eine wirtschaftlich tragfähige Lösung vorliegt, wird die Bundesregierung weiterhin erhebliche finanzielle Mittel in den Lärmschutz investieren, um die Lärmbelastung für Anwohnerinnen und Anwohner entlang des Mittelrheins weiter zu verringern“, erklärt der Ministeriumssprecher weiter – und hat noch einen Hinweis zu bieten: Perspektivisch werde der in Planung befindliche Ausbau der Strecke Hagen–Siegen– Gießen–Hanau die Strecken im Rheintal entlasten.
Fragt man jemanden, der unmittelbar an den Gleisen im Mittelrheintal lebt, ob die Zugstrecke ausgelastet ist oder nicht, wird die Antwort eindeutig ausfallen: Zug reiht sich an Zug, ständig wird es laut.Debatte um Alternativtrasse: Bundesverkehrsministerium sieht ausreichend Kapazitäten im Rheintal
Eine Entlastung, die am Mittelrhein immer dringender gefordert wird. „Die fahren uns in Grund und Boden“, hatten zuletzt Anwohner vor dem Hintergrund einer angekündigten Zunahme des Schienengüterverkehrs beklagt. Transportiert wurden diese Worte über eine wütende Pressemitteilung der Initiative Pro Rheintal. Darin war von einem Niedergang die Rede, der in fast allen Rheinorten sichtbar sei – und das wenige Jahre vor der Bundesgartenschau 2029, die das Tal doch zum Blühen bringen soll.
„Es fehlen Handwerker, Ärzte, Bäcker, Metzger. Häuser wurden unverkäuflich, Anwohner krank. Die jungen Menschen sind meist weggezogen – die Orte sterben aus“, zeichnet Pro Rheintal ein dramatisches Bild.
Das BMDV verweist auf bereits umgesetzte und geplante Maßnahmen zur Lärmminderung: „Bis Ende 2021 wurden bereits an 26 Standorten Schienenstegdämpfer eingesetzt. Mittlerweile werden in 11 von 19 Kommunen Schallschutzwände gebaut“, erklärt der Wissing-Sprecher. Geplant seien zudem weitere Schallschutzwände rechtsrheinisch in Eltville, Mittelheim und Winkel sowie linksrheinisch in Bad Salzig, Boppard und Rhens.
„Bis zum Ende des Jahres 2026 sollen alle rechtsrheinischen Schallschutzwände umgesetzt sein. Bis zum Ende des Jahres 2028 sollen dann rund 24 Kilometer Schallschutzwände in allen 19 Kommunen vom rheinland-pfälzischen Leutesdorf bis nach Erbach in Hessen fertiggestellt sein.“ Gesamtkosten: 130 Millionen Euro, finanziert vom Bund sowie den Ländern Rheinland-Pfalz (7,7 Millionen Euro) und Hessen (1,8 Millionen Euro). Weitere Maßnahmen könnten folgen – im Rahmen der zur Verfügung stehenden Haushaltsmittel.
Der Lärm könnte nach Ansicht von Bürgerinitiativen auch durch eine Temporeduzierung gemindert werden. „Die Bahn kann durch Tempo 50 ohne Kosten und Baumaßnahmen Lärm und Feinstaub in Wohngebieten um 90 Prozent reduzieren“ , fordert etwa Pro Rheintal. Hier erteilt Wissings Sprecher eine klare Absage: „Eine allein aus Gründen des Lärmschutzes angeordnete Geschwindigkeitsreduzierung in Ortslagen ist bei geltender Rechtslage nicht möglich.“
Unglaublich teuer, aufwendig im Bau, nicht unumstritten - aber für viele Bahnlärmgeplagte am Mittelrhein die einzige Hoffnung auf nachhaltige Besserung: Eine Alternativtrasse für Güterzüge als gigantisches Tunnelprojekt wird seit Jahren herbeigesehnt.Verkehrsminister Wissing im Interview: Wollen Lösung für Mittelrheintal – und halten an Alternativtrasse fest
Nach geltendem Recht könne nur der Betreiber der Eisenbahninfrastruktur die Geschwindigkeit von Zügen festlegen, also vor allem die Bahn mit ihrer Infrastrukturtochter, die mit weitem Abstand die meisten Gleiskilometer betreibt. Die aber müsse technische, betriebliche, wirtschaftliche und zugangsrechtliche Parameter berücksichtigen: „Eine Geschwindigkeitsbegrenzung oder ein Nachtfahrverbot aus Lärmschutzgründen im Bereich geschlossener Ortschaften würde im Schienengüterverkehr großen Einfluss auf die Leistungsfähigkeit der betroffenen Strecke haben und damit Transportkapazität reduzieren“, so der Ministeriumssprecher. „Dies steht im Widerspruch zu der auch aus klimapolitischen Gründen angestrebten Erhöhung des Güterverkehrsanteils, der mit der Eisenbahn erfolgen soll.“
Pro Rheintal wird sich damit nicht zufriedengeben: Die Initiative fordert die Politik auf, endlich zu handeln. Es brauche, neben weiterer Schritte, ein Votum für Tempo 50. So wäre die (Güter-)Bahn wieder „auf dem Weg zu mehr Akzeptanz, Sicherheit und Pünktlichkeit“.
Projekt Rheinvertiefung nimmt wichtige Meilensteine
Während es in Sachen Alternativtrasse also nicht wirklich vorwärtsgeht, macht ein anderes gigantisches Verkehrsprojekt am Mittelrhein Fortschritte: die Rheinvertiefung oder Abladeoptimierung, wie es offiziell heißt. „ Die Wasserstraßen- und Schifffahrtsverwaltung hat die vielversprechendsten Maßnahmen der Beschleunigungskommission Mittelrhein umgesetzt. Hierdurch sind die Weichen für eine schnellstmögliche Projektumsetzung gestellt“, erklärt der Sprecher des Bundesministeriums für Digitales und Verkehr (BMDV) auf Anfrage. So sei zwischenzeitlich ein guter Stellenbesetzungsgrad erreicht worden. Meilensteine würden sukzessive erreicht oder liegen in Reichweite: „Ende 2024 wurde die Frühe Öffentlichkeitsbeteiligung für den Rheingauabschnitt durchgeführt und die Voruntersuchungsphase für das Gesamtprojekt abgeschlossen. Ein nächster wesentlicher Meilenstein wird in der Einleitung des Planfeststellungsverfahrens für den Teilabschnitt 3 ,Jungferngrund’ und ,Geisenrücken’ liegen.“ red