Rheinland-Pfalz
„Wir alle sind die Corona-Feuerwehr“: So soll der Weg zur Normalität gelingen

Irgendwann, da ist sich der Mainzer Virologe Prof. Dr. Bodo Plachter, ganz sicher, „werden wir zu einem normalen Leben zurückkehren. Wir werden vielleicht weiter Abstand halten, und auch das leidige Händeschütteln könnte vorbei sein“. Der stellvertretende Direktor des Instituts für Virologie an der Unimedizin Mainz ist alt genug, sagt der 62-Jährige, um sich an andere Pandemien zu erinnern. Wie beim Coronavirus habe es auch beim HI-Virus und Aids viel Aufregung gegeben. „Heute leben wir mit HIV. Wir wissen, wie wir uns schützen können und dass es Therapien gibt.“ Wann dies bei der Corona-Pandemie der Fall sein wird, dazu will Plachter keine Prognose abgeben. Im Interview mit unserer Zeitung spricht er über den bevorstehenden Pandemieherbst, die Hoffnung auf einen Impfstoff und Corona-Leugner:

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Die Zahl der gemeldeten Corona-Neuinfektionen hat den höchsten Tageswert seit April erreicht. Stehen wir vor einer zweiten Welle? Oder sind wir schon mittendrin?

Die Frage ist, wie man eine Corona-Welle definiert. Das ist kein feststehender Begriff in der Virologie. Klar ist, dass man das, was im März und April passiert ist, nicht mehr mit dem vergleichen kann, was jetzt passiert. Das Virus hat sich nicht verändert, aber wir. Wir alle – Virologen, Kliniken, Ärzte, Gesundheitsämter, Politik und Bürger – haben dazugelernt. Wir wissen deutlich besser, wie man mit dem Coronavirus umgehen muss, wie wir es eingrenzen können. Wir haben noch kein exponentielles Wachstum wie in Spanien oder Frankreich. Und selbst wenn die Zahl der Fälle steigt, geht dies nicht zwangsläufig mit einem Anstieg der Krankheits- und Todesfälle sowie der Auslastung der Intensivkapazitäten einher.

Wie würden Sie die aktuelle Lage denn beschreiben? Worin bestehen die Gefahren im Herbst?

Der Istzustand lässt sich derzeit relativ schwer analysieren, weil wir nicht wissen, was im Hintergrund abläuft. Wir haben eine Ausbreitung des Virus in der Fläche, in vielen verschiedenen Kreisen. Da flackern überall kleine Brandherde auf. Oft beruhigt sich die Lage wieder, wenn die Betroffenen ausgeheilt sind oder in Quarantäne gehen. Die Sorge ist aber, dass sich aus einem dieser Herde wieder ein exponentielles Wachstum entwickelt. Denn es gibt eine Dunkelziffer, also Fälle, die nicht gesehen werden, weil die Infizierten zum Beispiel nicht zum Arzt gehen. Das sind oft junge Patienten, die zwar nicht schwer erkranken, aber das Virus weitergeben können. Wenn diese kleinen Flammenherde überspringen und Anschluss an andere finden, dann kann es sehr schnell zum Großbrand kommen.

Was ist der Unterschied zur Corona-Lage im Frühjahr?

Da war die Lage ähnlich. Aber wir hatten noch keine adäquate Feuerwehr, um mit den Bränden umzugehen und eine Ausbreitung zu verhindern. Das ist jetzt anders. Wir tragen Masken, halten Abstand, befolgen überwiegend die Hygieneregeln, schränken uns bei Feiern ein. Wir alle sind also Teil der Feuerwehr zur Eindämmung des Coronavirus. Aber das System ist natürlich löchrig. Denn es gibt etliche Menschen, die sich nicht an diese Regeln halten. Noch gehen die einzelnen Brandherde also von selbst wieder aus. Doch das könnte sich sehr schnell ändern, wenn sich die Menschen wieder vermehrt in Räumen aufhalten. Die Freizeitaktivitäten werden sich nach innen verlagern, nicht nur in den Restaurants wird es wieder enger.

Was sollte die Politik tun? Was können die Bürger tun?

Die Politik kann nicht so viel tun, außer vielleicht die Vorgaben zu verschärfen, zum Beispiel die Zahl der Restaurantbesucher begrenzen. Viel stärker gefordert sind aber die Bürger. Die Restaurantbetreiber werden zusammen mit dem öffentlichen Gesundheitsdienst daran arbeiten müssen, die Hygiene in den Lokalen weiter zu gewährleisten. Da geht es nicht nur um Abstandhalten, sondern auch darum, wo eine Maske getragen werden muss, dass Menschen nicht zeitgleich auf die Toilette gehen sollten und wie Wege klar voneinander getrennt werden. Das gilt auch für Ein- und Ausgänge oder Wartebereiche von Behörden. Da geht es auch um Kleinigkeiten wie Klebestreifen, um an Abstände zu erinnern. Das ist bei vielen Bürgern sehr wirksam. Und wir werden insgesamt darüber nachdenken müssen, was in der kalten Jahreszeit kontraproduktiv ist.

Was ist kontraproduktiv?

Ein volles Fußballstadion oder eine ähnlich gefüllte Großveranstaltung ist bis auf Weiteres nicht denkbar. Deshalb muss man nicht auf alles verzichten. Es spricht aus meiner Sicht etwa nichts gegen Zuschauer bei einem Fußballspiel. Es muss aber ein Hygienekonzept vorliegen, das auch umsetzbar ist und das sich für den Veranstalter noch rentiert. Das Oldtimerrennen am Nürburgring mit 5000 Zuschauern zeigt, dass so etwas auch in Corona-Zeiten organisierbar ist. Aber das sind auch andere Zuschauer als bei einem Fußballspiel. Hygieneregeln sind bei Großveranstaltungen aus meiner Sicht immer dann schwer umsetzbar, wenn Alkohol im Spiel ist. Die Erfahrung zeigt, dass die Regeln dann schnell vergessen sind. Es muss also ein Alkoholverbot bei solchen Großveranstaltungen geben. Außerdem ist zu bedenken, dass viele mit öffentlichen Verkehrsmitteln zum Stadion fahren. Eine vollgestopfte Straßenbahn mit bereits alkoholisierten Fußballfans ist unter Corona-Gesichtspunkten ein nicht kalkulierbares Risiko. Daher bräuchte es auch hierfür ein Hygienekonzept. Insgesamt muss der Veranstalter in jedem Moment die Kontrolle behalten. Es darf also etwa nur registrierte Tickets geben.

Stichwort Alkohol: Eine Kneipe lässt sich dann doch nicht ernsthaft in der kalten Jahreszeit Corona-gerecht betreiben.

Das ist ein Problem, weil dort natürlich keiner einen Mundschutz trägt und man kaum noch nachvollziehen kann, wer mit wem Kontakt hatte. Dann kann es zu Corona-Ausbrüchen kommen. Die Frage ist, ob man auch hier Kontakte oder etwa die Alkoholmenge begrenzen kann. In der Gastronomie könnte man überlegen, ob man die Öffnungszeiten etwas verlängert, um die Essenszeiten zu staffeln.

Und Karneval?

Sie wollen mich da als Mainzer nicht ernsthaft zu einer Aussage bringen (lacht). Im Ernst: Mit einem guten Hygienekonzept ist vieles möglich, aber das könnte für viele Vereine zu aufwendig sein. Ich kann mir aber keinen Fastnachtszug vorstellen, den die Menschen dicht an dicht verfolgen.

Halten Sie es für ausgeschlossen, dass es zu einem erneuten Lockdown kommt?

In dieser Pandemie kann man nichts ausschließen. Das zeigt die Lage in Frankreich oder Spanien, wo man wieder sehr nah an einem Lockdown ist. Aber wir haben seit dem Frühjahr alle viel dazugelernt. Daher spricht vieles dafür, dass wir keinen kompletten Lockdown mehr brauchen, sondern möglicherweise nur einzelne Bereiche einschränken oder für bestimmte Gruppen eine Quarantäne aussprechen können. Wir können derzeit viel besser auf Sicht fahren. So mussten große Teile des Einzelhandels im Frühjahr schließen. Wir haben aber gelernt, dass wir die Lage dort mit Masken und Abstandsregeln gut in den Griff bekommen. Der Einzelhandel war kein Problem. Dort gab es nicht viele Infektionen. Das dürfte auch so bleiben, weil sich dort fast alle an die Hygieneregeln halten. Auch eine vollständige Schließung der Schulen halte ich eher für unwahrscheinlich, weil die Situation auch dort gut zu überwachen ist.

Welche Teststrategie sollten wir im Herbst verfolgen? Testen, testen, testen, wie es CSU-Chef Markus Söder sagt? Oder testen nur, wenn jemand Symptome hat?

Wir sollten anlassbezogen testen. Erstens vergeudet man ansonsten Ressourcen, denn wir haben keine unbegrenzten Testkapazitäten. Das betrifft nicht nur Apparate und Reagenzien, sondern vor allem das Personal in Kliniken, Gesundheitsämtern und insbesondere den Laboren, das seit sechs Monaten an der Obergrenze arbeitet. Die sind müde. Wir befinden uns also schon jetzt an einer Kapazitätsgrenze. Dabei steht die Grippesaison erst vor der Haustür. Zweitens ergibt Testen ohne Anlass keinen Sinn. Wenn wir jetzt beispielsweise willkürlich 1000 Menschen testen würden, fänden wir vielleicht fünf bis zehn positive Fälle. Das wäre ein unverhältnismäßiger Aufwand. Und es wäre eine Momentaufnahme, die sich schon nach wenigen Tagen wieder ändern könnte.

Wann sind ausgedehntere Tests also sinnvoll?

Sie können bei der Eindämmung helfen, wenn es zu einem Ausbruch bei einer Familienfeier, in einem Betrieb oder einer Schule kommt. Dann sollte man vorsorglich erst einmal alle Kontaktpersonen in Quarantäne schicken, um sie dann laut der neuen Strategie bereits nach fünf Tagen zu testen. Alle, die dann einen negativen Test haben, können wieder raus aus der Quarantäne. Genau für diese Ausbrüche brauchen wir zeitnah möglichst viele Testkapazitäten. Wegen der „Testen, Testen, Testen“-Philosophie haben wir aktuell zum Teil einen Zeitverzug von bis zu fünf Tagen. Das ist unzumutbar und kontraproduktiv. Wenn ich das als niedergelassener Arzt weiß, teste ich erst gar nicht. Ein Befund sollte innerhalb von 24 bis 48 Stunden vorliegen. Wir müssen also gezielt und klug testen.

Könnte es sein, dass das Virus zu einer harmlosen Variante mutiert?

Das wäre schön. Viren sind ja nicht daran interessiert, Menschen krank zu machen. Ihr einziges Ziel ist es, sich zu vermehren und weiterverbreitet zu werden. Das können sie am besten, wenn sie ihren Wirt nicht schädigen. Die erfolgreichsten Viren sind daher jene, die zu überhaupt keinen Symptomen führen. Für das Coronavirus ist die Situation gerade eher kritisch, weil es sich den schlechtesten Wirt ausgesucht hat – den Mensch, der ja aktiv etwas gegen das Virus ausrichten kann. Und möglicherweise wird sich irgendwann eine Mutation durchsetzen, die zu milderen Erkrankungen führt und weniger tödlich ist. Aber wann das passiert, ist komplett unberechenbar. Und das wird wohl zuerst in Ländern passieren, in denen es eine größere Infektionsaktivität gibt. Daher müssen wir auf eine erfolgreiche Therapie setzen, die derzeit aber auch nicht in Sicht ist, oder auf eine Impfung.

Viele Menschen haben die Sorge, dass das Virus mutiert und der Impfstoff dann nicht mehr wirksam ist. Eine berechtigte Sorge?

Nein. Erstens kann man den Impfstoff relativ schnell anpassen, wie dies bei der Influenza-Vakzine auch geschieht. Zweitens setzt der Impfstoff bei Proteinen an, die für das Virus existenziell sind. Das sind die Spike-Proteine, mit denen das Virus an die Zellen anheftet. Viren, die in diesem Bereich mutieren, werden nicht überleben, weil sie sich nicht durchsetzen können. Klar ist aber auch, dass der Impfstoff keine 100-prozentige Wirksamkeit haben wird. Es dürfte aber schon reichen, wenn die Wirksamkeit bei 50 bis 60 Prozent liegen würde. Dann haben wir schon viel gewonnen.

Ist dann eine Herdenimmunität überhaupt erreichbar, für die wohl 60 bis 70 Prozent der Bürger eine Immunität aufbauen müssen?

Das ist schwierig. Zunächst einmal ist offen, wie lange die Immunität nach einer Erkrankung oder Impfung anhält. Eine Herdenimmunität entsteht aber nur dann, wenn sie sehr lange andauert. Weiterhin ist die Akzeptanz bei solchen Impfungen oft nicht sehr stark ausgeprägt. Hätte der Corona-Impfstoff eine Wirksamkeit von 60 Prozent, dann müssten sich deutlich mehr als 80 Prozent der Bevölkerung impfen lassen. Das ist schwer vorstellbar.

Der Impfstoff bedeutet also beileibe nicht das Ende von Corona?

Vermutlich nicht. Das Virus wird uns erhalten bleiben. Allerdings verschafft uns die Impfung Zeit, um bessere Therapien zu finden. Und es kann sein, dass sich auch Sars-CoV-2 irgendwann zu einem relativ harmlosen Erkältungsvirus weiterentwickelt.

Wann kommt der Impfstoff?

Gute Frage (lacht). Weil der öffentliche Druck so groß ist, wird man möglicherweise Kompromisse bei der Wirksamkeit machen.

Eine politische Entscheidung?

Nein. Nicht bei uns. Es gibt Länder wie Russland oder die USA, in denen die Politik massiv Einfluss auf die Zulassungsbehörden nimmt. Bei uns entscheidet allein das Paul-Ehrlich-Institut aufgrund einer Nutzen-Risiko-Abwägung. Alles andere kompromittiert die Glaubwürdigkeit der Zulassungsverfahren in der Bevölkerung und reduziert damit die Akzeptanz der Corona-Impfung.

Beim Thema Corona stößt man auf Skeptiker, Verschwörungstheoretiker und Leugner. Wie gehen Sie als Virologe damit um?

Indem ich aufkläre – in den Medien, aber auch im Privaten. Die meisten Menschen, die mich mit ihren Bedenken konfrontieren, erlebe ich als sehr einsichtig. Und viele, die ich treffe, bewerten die Corona-Maßnahmen positiv. Ich betone immer wieder: Wir haben kein Virus, das wir bekämpfen, wir haben es mit einer Naturkatastrophe zu tun. Diskussionen mit Corona-Leugnern habe ich aufgegeben, weil das zu nichts führt. Deren Überzeugung ist so stark, dass sie sich durch wissenschaftliche Fakten nicht mehr entkräften lässt. Mehr als die wissenschaftlichen fundierten Erkenntnisse habe ich nicht. Wie vielen anderen macht es mir schon Sorgen, dass diese sogenannten alternativen Fakten auf dem Vormarsch sind und teils verbal sehr aggressiv vertreten werden.

Das Gespräch führte Christian Kunst

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