Im Büro von Marco Vietor an der WHU Vallendar türmen sich die Fotorahmen der erfolgreichsten Absolventen der Privatuniversität an der Wand. Irgendwo in einem der vier, fünf Stapel muss auch ein Porträt des 45-Jährigen stecken. Vietor fischt es ganz unten raus. Normalerweise reihen sich die Porträts der WHU-Gründer wie eine Ahnengalerie an der Holztreppe zum Goethezimmer aneinander. Eine „Hall of Fame“. Derzeit ragen allerdings nur noch die Nägel aus der weißen Wand. Es wird renoviert.
Vietor ist einer der Unternehmer, dem sie an der WHU nacheifern. 1200 Mitarbeiter hat seine Firma Audibene weltweit. 250 Millionen Euro Umsatz macht der deutsche Marktführer bei Hörgeräten. Im Gebäude nebenan haben sie sogar einen Saal nach dem früheren Start-up mit Sitz in Berlin und Mainz benannt.
Dafür haben die Ehemaligen, die sie an der WHU „Alumni“ nennen, das Gebäude mitgesponsert. Ein Netzwerk, das die WHU neben Oxford zur größten Start-up-Schmiede pro Student in Europa gemacht hat. Und Vietor ist einer der ganz Großen. Seine Vorlesung füllt an diesem Frühlingsmorgen die komplette Vallendarer Stadthalle.
Bisher zieht es die meisten WHU-Gründer nach dem Abschluss jedoch immer noch in die Großstädte. Nach Berlin, Köln oder München. Das will der 45-Jährige nun ändern. In der Region soll ein Cluster aus Jungunternehmen mit Firmensitz am Campus Vallendar entstehen. Burgstraße 1. Vietor zeigt uns stolz den Briefkasten mit knapp zehn Namen. Start-ups quer durch alle Branchen. „American Wine Expert“, „Nova Nutrition“ und „MBA Ventures“ steht auf den schmalen Schildchen. „Bisher sind das alles noch kleine Start-ups, die nicht viel mehr als einen Briefkasten und einen Tisch brauchen“, räumt er ein.
Aber alle fangen mal klein an. Zumal die meisten Gründer ja nebenbei auch noch studieren. „Ich habe das Gefühl, dass sich da was entwickelt“, ist Vietor überzeugt. Denn an der WHU finden sie das ideale Biotop. Gleich neben der Anlaufstelle der Ehemaligen werden die Unternehmer in spe im Center of Entrepreneurship von Managing Director Maximilian Eckel fit für die Selbstständigkeit gemacht. Für Gründer gibt es in Vallendar einen eigenen Masterstudiengang mit knapp 40 Studenten.
„Irgendwann haben wir die Zwischenwand einfach eingerissen“, sagt Vietor. Jetzt können die Jungen von den Alten lernen. Ganz ohne Berührungsängste. „Wir duzen uns hier alle“, betont Vietor. „Das gilt bis zu den ältesten Jahrgängen.“ Selbst wenn Zalando-Gründer Robert Gentz mal ums Eck biegen sollte. Noch so ein prominenter Ex-WHUler, der in Vallendar einen Flip-Flop-Handel im Internet ausgetüftelt hat. Eine schräge Idee. Der Rest ist bekannt.
Im Moment ist es noch ruhig. Die Studenten sitzen in Vorlesungen und Seminaren. „Von 18 bis 22 Uhr wird es hier lauter“, sagt Vietor. Der 45-Jährige schaut auf die Uhr. Gleich hat er noch einen Termin. Zwei Studenten haben bei einem Wettbewerb ein Coaching beim Audibene-Chef gewonnen. „Sie haben eine App für Krankenhausmitarbeiter entwickelt“ – so viel weiß Vietor bereits. „Die Idee finde ich schon mal sehr spannend.“ Da sieht er großes Potenzial. Aber auch dicke Bretter. „Start-ups, das ist kein Sprint, sondern ein Marathon“, weiß er aus Erfahrung.
Da ist ein langer Atem gefragt. Aber auch Audibene war kein Selbstläufer. Viele haben den Kopf geschüttelt, als Vietor und seine Mitgründer 2011 auf die Idee kamen, Hörgeräte übers Internet zu vermarkten. Wer lässt sich schon per Telefon oder Video beraten, wenn er schwerhörig ist? Das musste sich der damals 31-Jährige oft anhören. Aber taub sind sie eben auch nicht. „Es gibt in Deutschland rund 12 Millionen Menschen mit Hörschäden“, erklärt Vietor sein Geschäftsmodell. „Aber nur drei, vier Millionen haben Hörgeräte.“ Audibene ist in diese Marktlücke gestoßen.
Vietor und seine Mitgründer sind dabei zunächst angetreten, um Ängste und Vorurteile abzubauen. „Mein Vater spielte dabei eine wichtige Rolle“, sagt der 45-Jährige. Zunächst mal feilten Vietor und seine Mitstreiter an Image und Modellen. „Wir mussten den Kunden klarmachen, dass wir keine großen, unförmigen Haken verkaufen“, erklärt der Geschäftsmann. Gerade mal 1,6 Gramm wiegen seine Geräte, die mittlerweile in Kooperation mit 1300 Hörgeräteakustikern vertrieben werden. Audibene hat auch Dependancen in die USA und in Indien. Das Zauberwort heißt wie so oft: skalieren.
Bis die Junggründer am WHU-Campus richtig durchstarten können, müssen sie indes noch an ihren Konzepten arbeiten. Es gehe dabei allerdings nicht um Raketenwissenschaften. „Ein Start-up verkauft etwa Gebrauchtwagen ins Ausland“, sagt Vietor, der sich neben Audibene auch als Business Angel unterwegs ist, wie es in der Szene heißt. „Ich habe vor Kurzem in mein 23. Start-up investiert“, sagt er. „Typischerweise beteilige ich mich mit 50.000 bis 100.000 Euro.“ Aber es könne auch über die Zeit deutlich mehr werden, wenn die Firma sich gut entwickelt.
Um an Startkapital zu kommen, haben sie an der WHU eine Datenbank erstellt, um Investoren und Gründer zusammenzubringen. Eine Art Parship für Jungunternehmer also. Vietor rät den Studenten aber, auch Hausbanken mit an Bord zu nehmen. „Ohne die Sparkasse Koblenz gäbe es Audibene nicht“, betont der 45-Jährige. Die Sparkasse in Montabaur gehört ebenfalls zum Netzwerk der WHU.
Geldsorgen beginnen für Studenten an Privatunis allerdings meist schon bei der Immatrikulation. An der WHU fallen in den drei Jahren bis zum Bachelor stolze 54.000 Euro Gebühren an. Eine satte Hypothek. Bis zum Master kommen dann noch mal 20.000 obendrauf. Wer kein Stipendium hat, sitzt nach dem Abschluss somit auf knapp 75.000 Euro Schulden. „Das klingt erst mal viel“, sagt Vietor. „Aber in den USA zahlen Sie locker das Dreifache.“ Dennoch schreckt das viele ab. Zumal ja noch Miete und Lebenshaltungskosten hinzukommen.
Bei Braincapital in Montabaur haben sie deshalb ein Kreditmodell entwickelt, das speziell auf Studenten von Privatunis zugeschnitten ist. „Es gibt keine feste Rückzahlung“, erklärt Vietor, der als Gesellschafter ebenfalls Aktien in der Ausgründung der WHU Vallendar hat. Das Konzept: Nach dem Abschluss stottern Studenten ihre Schulden zehn Jahre lang mit jeweils 7 bis 9 Prozent ihres Gehalts wieder ab. Wer viel verdient, zahlt also mehr. Und umgekehrt. Ein Hauch von Sozialismus in einem eher neoliberalen Umfeld. Hinzu kommt: „Diese Finanzierung des Studiums steht nicht in der Schufa“, sagt Vietor.
Das rechnet sich offenbar für beide Seiten. Im Mai feiert Brain Capital sein 20-jähriges Bestehen. Mittlerweile arbeiten 30 Mitarbeiter für die Firma am ICE-Bahnhof in Montabaur. „Das Unternehmen wächst immer weiter“, sagt Vietor. Denn längst hat sich der Kundenstamm auch auf Studenten anderer Privatuniversitäten ausgedehnt. Seit 2005 hat Brain Capital Kredite in Höhe von 400 Millionen Euro an insgesamt 12.000 Studenten vergeben. Ein regionales Erfolgsmodell, das Ex-WHU-Rektor Markus Rudolf mit zwei Studenten als Start-up gegründet hat. Einer davon ist Vietor. Es muss also nicht immer gleich Berlin sein.
Und vielleicht steht das nächste Vorzeigeprojekt ja schon in den Startlöchern. Denn mittlerweile hat die Krankenhaus-App die erste Hürde genommen. Der erste berüchtigte „Pitch“, eine Art Speeddating von Jungunternehmern und Investoren, ist schon überstanden. „Die Gründer haben mit einer großen Uniklinik ein bezahltes Pilotprojekt gestartet und sind mit weiteren großen Kliniken im Gespräch“, sagt Vietor stolz. Parallel laufe die Produktentwicklung über eine externe Agentur weiter auf Hochtouren. Vietor ist übrigens schon wieder mit im Boot. „Gestern waren wir in Koblenz beim Notar, und ich habe mich als Business Angel an der Firma Teamcare beteiligt.“ Start-up Nummer 24 kann kommen.
Nirgendwo in Europa ist der Anteil der Gründer unter den Studenten so hoch wie an der WHU in Vallendar - außer in Oxford. Auch Zalando, Flixbus und Rocket Internet haben ihre Wurzeln am Rhein. Wie kommt das?Start-up-Schmiede Vallendar: Wie die WHU Neugründer wie Zalando in Serie hervorbringt
Talentschmiede für Start-ups
WHU-Studenten und Ehemalige der Privatuni Vallendar haben bislang mehr als 1500 Start-ups gegründet. Auf 1000 Studenten der WHU kommen 35 Gründer. Das gibt es in Europa sonst nur an der Uni Oxford. Bei Finanzierungsrunden waren die Vallendarer zudem überdurchschnittlich erfolgreich. Knapp 5,7 Prozent aller Transaktionen in Deutschland wurden zwischen 2014 und 2023 mit WHU-Start-ups abgeschlossen. Sie erhielten mit 7 Milliarden Dollar auch mehr als 10 Prozent der vergebenen Investitionssumme. Im Durchschnitt erhielten sie pro Transaktion 15 Millionen Dollar und damit etwa doppelt so viel wie Start-ups ohne WHU-Beteiligung. 15 sogenannte Einhörner (Unicorns), also Start-ups, die vor Börsengang oder Exit eine Marktbewertung von mehr als 1 Milliarde Dollar erreichen, haben Alumni der WHU mittlerweile gegründet. Sie gelten in der Szene als Goldstandard. Die bekanntesten Unternehmen von EX-WHUlern sind Zalando, Flixbus und Hello Fresh. de