Jetzt ist das Verfahren zu einem Ende gekommen: Der 49-Jährige wurde wegen Totschlag zu einer Freiheitsstrafe von fünf Jahren und sechs Monaten verurteilt. Die Verteidigung will indes noch die Möglichkeit der Revision prüfen. Welche Rolle der Ukraine-Krieg in diesem tragischen Fall spielt, davon berichten wir.
Was im April geschehen sein soll
23. April 2022, wir sind in einer Industriebrache in Andernach, die Abenddämmerung hat bereits eingesetzt. Und auch in dem Gebäude wurde offenbar die blaue Stunde eingeläutet: Ein Obdachloser, der nachts in der Brache Unterschlupf findet, feiert gemeinsam mit einem 49-jährigen weißrussischen Lkw-Fahrer das Wochenende. Es gibt Gürkchen, Frikadellen, Whiskey und Bier – gekauft im Netto-Markt um die Ecke. Zwei weitere Gäste gesellen sich dazu, ein Mann und eine Frau. Lieder werden gesungen, man lacht, liegt sich in den Armen, die Welt ist in Ordnung.
Niemand in der Runde spricht Russisch
Weil indes niemand in der Runde Russisch spricht, kann der Lkw-Fahrer bloß über eine App mit den anderen kommunizieren. Die scheint jedoch ihr Geld nicht wert zu sein, sie übersetzt nur schlecht. Also rufen die Feiernden einen Bekannten hinzu, der aufgrund seiner kasachischen Wurzeln des Russischen mächtig ist. Und er hat Lust auf ein Besäufnis, will vorbeikommen. Als er in der Industriebrache eintrifft, scheint die Chemie zwischen ihm und dem Weißrussen gleich zu passen. Alkohol fließt weiter in Strömen, die Atmosphäre ist entspannt – bis das Thema Ukraine-Krieg auf den Tisch kommt.
Ukrainischer ESC-Song wurde abgespielt
Auf dieses geschilderte Szenario konnten sich im Totschlagsprozess Andernach alle Zeugen – inklusive des Angeklagten – einigen. Auch darauf, dass der Deutsche – mutmaßlich um zu provozieren – irgendwann das ukrainische Lied für den Eurovision Songcontest abspielt, was zu einer körperlichen Auseinandersetzung zwischen ihm und dem Weißrussen führt. Weil die anderen Partygäste sich nach diesem Stimmungskiller aber entweder aus dem Staub gemacht hatten oder alkoholbedingt ausgeknockt waren, stand die 14. Strafkammer um Richter Rupert Stehlin am Koblenzer Landgericht vor einer schwierigen Aufgabe. Die zu klärende Hauptfrage des Prozesses: Was spielte sich im weiteren Verlauf der Nacht zwischen dem Weißrussen und seinem Kontrahenten ab?
Die Version des Angeklagten
Glaubt man dem Angeklagten, dann wurde er mit einem Messer attackiert, als Russenschwein beschimpft, mit dem Tode bedroht. Dabei habe er überhaupt nicht über die große Politik reden wollen. Er sei bloß ein einfacher Arbeiter. Genau wie der Deutsche mit kasachischen Wurzeln. Was könnten sie schon an der Weltpolitik verändern? Und es gebe zudem zahlreiche Russen, die klar gegen Putin seien, so die Ausführungen des Angeklagten.
Doch hätten seine Beschwichtigungsversuche nicht geholfen, er sei weiter angegriffen worden, also habe er sich wehren müssen. Seine Einlassungen enden indes immer genau an dem Punkt, wo er den Deutschen am Hals packt – und drückt. Dann seien bei ihm die Lichter ausgegangen, behauptet er, etwas habe ihn am Kopf getroffen. Die Version des Opfers würde vermutlich ganz anders klingen.
Verteidiger plädierte auf Freispruch
War es im April dieses Jahres Notwehr, wie der Weißrusse im Gericht schilderte? Die dann aber weit übers Ziel hinausschoss, weil der 49-Jährige Todesangst hatte? Zu dieser Einschätzung kam sein Verteidiger, Rechtsanwalt Michael Hürth. Er plädierte auf Freispruch – mit einem Verweis auf Paragraf 33 des Strafgesetzbuches, der besagt: „Überschreitet der Täter die Grenzen der Notwehr aus Verwirrung, Furcht oder Schrecken, so wird er nicht bestraft.“ In Tatortnähe, so Hürth, sei nämlich tatsächlich ein Messer gefunden worden, welches am Griff DNA-Spuren des Opfers aufweise. Ein „Notwehrexzess“ seines Mandanten habe schließlich zum Tod des Deutschen geführt. Doch die Absicht, den Mann zu töten, habe sein Mandant keineswegs gehabt.
Gericht kam zu anderer Einschätzung
Die 14. Strafkammer kam indes zu einer anderen Bewertung des Falles. In der Urteilsbegründung betonte Richter Rupert Stehlin, dass Paragraf 33 nicht herangezogen werden könne, da die finale Attacke vom Angeklagten ausgegangen sei. Das Opfer, so Stehlin, sei wahrscheinlich schon im Begriff gewesen, die Brache zu verlassen, habe bloß noch kurz urinieren müssen. Was auch die Tatsache erkläre, dass der Mann mit offener Hose aufgefunden wurde. Seine Blase war laut Obduktionsbericht randvoll.
Zeugen schilderten Belarussen als guten Menschen
Was man mit ziemlicher Gewissheit konstatieren kann, ist, dass es ohne den Ukraine-Krieg diesen tödlichen Streit in Andernach wohl nie gegeben hätte. Die gezeigte Reue des nervlich erledigten Angeklagten, der im „letzten Wort“ um Mitgefühl und Vergebung bat, schien authentisch. Als Lkw-Fahrer führte er ein einsam-tristes Leben; ein bisschen Glück fand er wochenends beim Saufen mit seinem obdachlosen Kumpel.
Alle Zeugen schilderten den Belarussen während des Prozesses als einen freundlichen, hilfsbereiten, herzlichen Mann. Seinem wohnungslosen Trinkkumpanen spendierte er oft eine Mahlzeit und Bier; am Ende ihrer Saufgelage bugsierte der Weißrusse den weniger trinkfesten Mann stets zu seinem Schlafsack, deckte ihn sogar noch zu. Dass dieser Mann jemanden erwürgt haben soll, konnte keiner seiner Bekannten glauben.
Angeklagter hatte wohl vier Promille
Doch gingen vom Angeklagten während des Streits um Putin und die Ukraine wirklich keine Aggressionen aus, wie er vor Gericht Glauben machen wollte? War einzig der Getötete Provokateur? Das erscheint schwer vorstellbar. Der 49-Jährige gab jedenfalls zu Protokoll, dass er sich als Russe, nicht als Belarusse fühle. Das Thema Ukraine-Krieg gepaart mit alarmierend hohen Promillewerten – der Weißrusse hatte vier, der Deutsche über drei – stellte eine unheilvolle Kombination dar, die letztlich sogar ein Todesopfer forderte. Whiskey enthemmt bekanntlich. Besonders für die Hinterbliebenen des Opfers sind die Ereignisse eine einzige Tragödie.
Belarusse berichtete von Anfeindungen seit Kriegsausbruch
Der Angeklagte berichtete im Zuge der Verhandlung glaubwürdig, dass er seit Ausbruch des Krieges bereits mehrfach angefeindet worden sei. Den potenziellen Brandherden sei er indes stets aus dem Weg gegangen, zuletzt einer brenzligen Situation, bei der ukrainische Lkw-Fahrer involviert gewesen sein sollen.