Mediziner berichtet aus einer Notfallpraxis in Bad Neuenahr-Ahrweiler - Versorgung spielt sich ein - Medikamente werden geliefert
Wie Ärzte inmitten des Chaos arbeiten: Mediziner berichtet aus einer Notfallpraxis in Bad Neuenahr-Ahrweiler
Die zerstörerische Flut hat auch Arztpraxen nicht verschont, weshalb die medizinische Versorgung im Ahrtal erst wiederaufgebaut werden musste. Eine Möglichkeit sind mobile Arztpraxen wie die des Deutschen Roten Kreuzes. Hier behandelt der Mediziner Jörg Heller (rechts) einen Helfer des Technischen Hilfswerks, der sich am Daumen verletzt hat. Foto: dpa
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Der Arzt Marcus Friedl ist mittendrin. Mit zahlreichen Kollegen und Helfern versucht er, die medizinische Grundversorgung auf der südlichen Ahrseite in Bad Neuenahr-Ahrweiler sicherzustellen. Derzeit arbeitet er in einer Notfallpraxis – eine Herausforderung. Im Gespräch mit unserer Zeitung berichtet er, wie die medizinische Lage aussieht.

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Die zerstörerische Flut hat auch Arztpraxen nicht verschont, weshalb die medizinische Versorgung im Ahrtal erst wiederaufgebaut werden musste. Eine Möglichkeit sind mobile Arztpraxen wie die des Deutschen Roten Kreuzes. Hier behandelt der Mediziner Jörg Heller (rechts) einen Helfer des Technischen Hilfswerks, der sich am Daumen verletzt hat. Foto: dpa
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Neben seiner Praxis gibt es unter anderem noch die Bereitschaftszentrale der Kassenärztlichen Vereinigung, die nun auch tagsüber erreichbar ist, wie Friedl erzählt. Kritisch sieht er dagegen die Situation des Krankenhauses mit der Notfallaufnahme auf der südlichen Ahrseite, das durch die Zerstörung der Brücken mehr oder weniger abgehängt ist: „Die Versorgung ist hier vielleicht gerade so ausreichend, wir versuchen, diese nun sicherzustellen.“ Es laufe auch ganz gut. Man könne sagen: Die Notfallversorgung allgemein ist in Bad Neuenahr-Ahrweiler gesichert.

Viele Menschen im Katastrophengebiet benötigen aktuell ärztliche Versorgung, weisen unterschiedliche Symptome auf. Helfer und Betroffene, die tagelang alles aus den Kellern räumen und Schlamm schippen, ziehen sich etwa Schnittverletzungen durch Glasscherben zu. Ein anderes Problem sind Infektionen. Die stellt auch Jürgen Fleischmann, der leitende Arzt des Johanniter-MVZ in Sinzig, zunehmend fest: „Einige Menschen im Katastrophengebiet, die aufräumen und helfen, bekommen Durchfall.“ Er war bislang privat als Arzt in Sinzig, Heimersheim und auch Bad Bodendorf unterwegs.

Infektionsgefahr steigt

Darauf geht auch Friedl ein, beruhigt aber die Lage: „Wir hatten bisher zum Glück erst wenige Magen-Darm-Infekte.“ Verantwortlich dafür sind wahrscheinlich Wasserkeime, „weil natürlich die Kanalisation hochgedrückt wurde und sich mit dem Schlamm vermischt hat“. So ist dieser Schlamm auch mit Fäkalien verunreinigt. Wenn Menschen ihr verdrecktes Hab und Gut reinigen und sich aufgrund der schwierigen Wasserversorgung nicht die Hände waschen können, besteht eine erhöhte Infektionsgefahr. Beim Essen können die Keime in den Körper gelangen.

Fleischmann empfiehlt, unbedingt Handschuhe bei den Aufräumarbeiten zu tragen. Doch selbst wenn Helfer sich schützen – es geht doch manches schief: Es mussten schon Infusionen gelegt werden. „Diese Patienten können wir notfallmäßig in der Praxis versorgen“, betont Friedl.

Einige Helfer haben „dicke Weichteilinfektionen (Bindegewebe, Muskeln oder Fettgewebe) bekommen“. Diese müssen dann intravenös mit Antibiotika behandelt werden. Überdies besteht auch eine erhöhte Gefahr, an Tetanus zu erkranken. „Viele haben oftmals keinen Tetanusschutz mehr, wir frischen jetzt auf im großen Stil“, berichtet Friedl. Über das Land und weitere Kanäle wurden Impfstoffe geliefert. Auch Corona-Impfungen werden angeboten. Ein junger Arzt aus Würzburg, der extra ins Krisengebiet kam, ist hier beispielsweise im Einsatz, sagt Friedl: „Er impft Menschen von morgens bis abends.“ Firmen organisieren Ultraschallgeräte oder sorgen für Reparaturen.

Nicht nur die direkte Notfallversorgung ist ein großes Thema, sondern auch die Medikamentenbeschaffung. Eine große Herausforderung ist, dass Menschen, die auf Dauermedikation angewiesen sind, diese auch bekommen, sagt Jürgen Fleischmann: „Junge Menschen sind von Haus zu Haus gegangen und haben die Bewohner darauf angesprochen.“ In der Krisensituation dachten viele nicht daran, Medikamente zu besorgen, sagt er. Einige Betroffene erreichten ihren Arzt nicht oder wurden nicht erreicht. Darüber hinaus seien auch einige Medikamente in den Fluten verloren gegangen. Eine Frau hatte seit Tagen ihre Herzmedikamente nicht bekommen, ihr ging es dementsprechend schlecht, wie Fleischmann erzählt.

„So langsam spielt sich aber alles ein“, betont Fleischmann. In den ersten Tagen habe ihm aber gefehlt, dass aktiv Menschen zu Themen wie Dauermedikation oder allgemein medizinischer Versorgung angesprochen werden. Eine Schwierigkeit sei zudem, dass viele Ärzte aufgrund der Sommerferien im Urlaub sind. „Wir haben jetzt versucht, eine Regelversorgung langsam wiederaufzubauen, auch mit Medikamentenausgaben“, erklärt Friedl. Es gibt Medikamente, die den Patienten akut mitgegeben werden können, und auch die weitere Versorgung funktioniert.

Versorgung aufgebaut

Ein zusätzliches Problem vor allem in den ersten Tagen nach der Katastrophe waren die zerstörten Apotheken in Bad Neuenahr-Ahrweiler. Doch hier gibt es eine positive Nachricht: „Die Inhaberin hat jetzt mit einer Kooperation in Köln die Versorgung wiederaufgebaut und beliefert uns mit Medikamenten“, unterstreicht Friedl. Das sei auch dringend nötig.

Es fehlen zudem oft passende Räumlichkeiten zur Behandlung. So nutzt Marcus Friedl aktuell Räume im Seniorenzentrum St. Anna. Wenn der Krisenstand vorbei ist, werden diese sicherlich für die Tagespflege benötigt, erläutert er. Friedl sucht weitere Behandlungsräume auf der südlichen Ahrseite, in der Nähe seiner alten Praxis, die an der Kalvarienbergstraße liegt, aber wie viele andere vorübergehend nicht genutzt werden kann.

Auch die psychotherapeutische Betreuung ist wichtig. Jürgen Fleischmann hat erlebt, wie ein Helfer in einem Keller eine Panikattacke erlitt, als er sich vorstellte, was Bewohner erlebt haben könnten. „Er war fix und fertig.“ Psychische Folgen spüren die direkt Betroffenen oft später durch eine posttraumatische Belastungsstörung, die laut Fleischmann erst nach rund einem halben Jahr auftritt. Lars Tenorth

Marcus Friedl sucht dringend in der Nähe seiner auch vom Hochwasser betroffenen Praxis, Kalvarienbergstraße in Bad Neuenahr-Ahrweiler, passende Behandlungsräume. Sie sollten auf der Seite der südlichen Ahr sein. Wer dabei unterstützen kann, kann sich per E-Mail an anmeldung@gemeinschaftspraxis-friedl.de wenden.

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