Es ist 19.33 Uhr, als das Handy von Silvia Benjamin vibriert. Raketenalarm. Im Sekundentakt poppen jetzt die Warnhinweise von „Red Alert“ auf ihrem Display auf. Ramat Gan. Jaffa. Tel Aviv West. Ost. Zentrum. Seit Dienstagnachmittag haben sich die Gerüchte verdichtet, dass der Iran Israel angreifen wird. Am Abend haben die Mullahs tatsächlich ihre Marschflugkörper abgeschossen. Knapp zehn Minuten brauchen sie bis Tel Aviv. Zu Silvia Benjamin, die im Norden der Stadt lebt. „Diesmal hatten wir sehr wenig Vorwarnzeit“, sagt die gebürtige Westerwälderin. Auch vom Heimatschutz-Kommando sind Push-Nachrichten eingetroffen. Eine Art Katwarn. „Sofort in die Schutzräume“, heißt es dort auf Hebräisch. „Lebensgefahr!“
Da sitzt du dann drin wie in einem Stahlbetonkäfig.
Die gebürtige Westerwälderin Silvia Benjamin über den Schutzraum in ihrer Wohnung.
Ihre Wohnung hat einen solchen Safe Room. „Eigentlich ist das unser Gästezimmer“, erklärt Silvia Benjamin. Aber für den Notfall steht immer etwas zu essen und zu trinken im Raum. Auf diesen Quadratmetern hat sie schon viele bange Stunden verbracht. Die Geschäftsfrau schiebt die schwere Stahlplatte vors Fenster. Dann legt sie den Riegel der Metalltür um. Die Luftfilteranlage springt an. Die 50-Jährige ist jetzt hermetisch von der Außenwelt abgeschlossen. „Die Wände sind richtig, richtig dick“, sagt Silvia Benjamin. Ein beklemmendes Gefühl. „Da sitzt du dann drin wie in einem Stahlbetonkäfig.“
Hektisch werden noch schnell Nachrichten mit Freunden und Verwandten ausgetauscht. Ihr Freund hat es nicht nach Hause geschafft. Er hat sich in einen Schutzraum unter seinem Büro gerettet. „Das Letzte, was man bei einem Raketenalarm will, ist draußen zu sein“, erklärt Silvia Benjamin. Schon gar nicht im Bus oder im Auto. Ihr Stiefsohn ist ohnehin bei der Armee. Die 50-Jährige ist also allein, als die Hölle über der Millionenstadt hereinbricht. Die Abwehrsysteme „Iron Dome“, „David Sling“ und „Arrows“ feuern im Stakkato in den Nachthimmel. Die Bilder aus Israel gehen um die Welt. In den Nachrichten laufen Sondersendungen.
Und Silvia Benjamin, die in Montabaur Abitur gemacht hat, sitzt mittendrin. „Das ist total surreal“, erinnert sie sich. „Das war das Heftigste, was ich bisher mitgemacht habe.“ Seit die 50-Jährige 2018 nach Israel gezogen ist, hat sie Dutzende Raketenangriffe erlebt. Zuletzt im April, als der Iran das Land zum ersten Mal beschossen hat. Doch diese Dimension ist auch für sie neu. In das Heulen der Sirenen mischen sich nach nur wenigen Minuten auch die ersten Detonationen, die das ganze Wohnviertel erschüttern. „Es hörte sich an, als würde das Haus explodieren“, sagt sie. „Alles hat gewackelt.“
Jedes Mal, wenn die israelischen Abwehrraketen die meterlangen Marschflugkörper in der Luft zerfetzen, hallt ein ohrenbetäubender Lärm durch die Millionenstadt. „Ich habe einen lauten Knall nach dem anderen gehört“, erinnert sich Silvia Benjamin an die Horrornacht. Und auf „Red Alert“ wollen die Warnmeldungen einfach nicht abreißen. „Es kam Welle um Welle“, sagt sie. Irgendwann verliert die Geschäftsfrau das Zeitgefühl. „Ich hatte richtig Angst“, erinnert sie sich. „Das war richtig, richtig übel.“
Hat Israel wie im April wieder alle iranischen Raketen vom Himmel geholt? Oder sind sie diesmal auch in Tel Aviv eingeschlagen? Silvia Benjamin weiß es nicht. „Was draußen abgeht, bekommst du drinnen nicht mit“, sagt sie. Ein Gefühl der Hilflosigkeit breitet sich aus. „Du weißt nicht, was um dich herum passiert.“ Greifen die Mullahs etwa auch das Hauptquartier des Auslandsgeheimdienstes Mossad an, das nur einen Steinwurf von ihrer Wohnung entfernt liegt? Bei einem Treffer wird ihr auch der Schutzraum wenig helfen. Irgendwann schickt ihr eine Kollegin ein Video zu, das sie vom Balkon ihrer Wohnung aufgenommen hat. Es sind die Bilder, die ihre Verwandten in Deutschland zur gleichen Zeit in den Nachrichten sehen. Markerschütternd. „Meine Mutter war total panisch“, sagt Silvia Benjamin.
Erinnerungen an den 7. Oktober 2023 werden wach. Genau ein Jahr ist das her. Silvia Benjamin ist mit ihrem israelischen Freund im Urlaub in Afrika, als sie damals auf ihrer Lodge von dem Angriff der Hamas überrascht wird. „Was da passiert ist, hat mich total erschüttert“, erinnert sie sich. Irgendwie schaffen sie es noch, einen Flug über Äthiopien nach Israel zu ergattern. Mitten hinein in den Horror.
Einen Tag später sind sie im Landeanflug auf Tel Aviv. „Der ganze Flieger war still“, sagt sie. Um sie herum explodieren die Granaten. Ähnlich wie jetzt. Ein Leben im Ausnahmezustand. Todesangst. „Auch wenn die Wahrscheinlichkeit, getroffen zu werden, damals ziemlich gering war“, sagt Silvia Benjamin, der sich nach der Landung ein gespenstisches Szenario bietet. „Der Flughafen war komplett leer“, erinnert sie sich. Am Schalter für Ausländer ist sie die Einzige. „Der Mann in dem Büdchen hat am ganzen Körper gezittert“, erinnert sie sich. Seine Begrüßung: „Willkommen im Albtraum.“
Ein Land in Schockstarre, die bis heute anhält. Alarmbereitschaft als Dauerzustand. Die Angriffe kommen aus Gaza, aus dem Libanon, aus dem Jemen. Sie bestimmen Silvia Benjamins Alltag. Einmal wird die Deutsche im Bus von einem Raketenalarm überrascht. Das Fahrzeug stoppt. Alle müssen raus. Es bleiben nur wenige Sekunden. Kurze Orientierung: Wo ist Süden? Denn von da kommen die Raketen diesmal. Aus Gaza.
„Ich habe mich hinter ein Gebüsch geworfen“, erinnert sich die 50-Jährige. Die Hände im Nacken. Banges Warten. Dann kracht es über ihren Köpfen. „Der junge Mann, der neben mir lag, hat geweint wie ein Kind“, sagt sie. Wie sich herausstellt, ist es ein ehemaliger Soldat, der seit seiner Dienstzeit unter einer posttraumatischen Belastungsstörung leidet. Bekanntschaften in Extremsituationen. Danach klopfen sie sich den Staub aus der Kleidung. Weiter geht's.
Nach dem 7. Oktober sind die Israelis kompromissloser geworden.
Silvia Benjamin
Am vergangenen Dienstag kommt die Entwarnung um 20.26 Uhr. Nach einer quälend langen Stunde im Schutzraum. Die Dauersirene verstummt. Wieder werden Nachrichten verschickt. An die Mutter. An ihren Freund. Alles gut. Dann schiebt Silvia Benjamin den Riegel der Tür zurück und blickt zum ersten Mal nach draußen. Alles heil. Durchatmen. Aber wie lange? Der israelische Ministerpräsident Benjamin Netanjahu hat Iran Vergeltung angedroht. Dann wird sich die Gewaltspirale weiterdrehen. “Wir sind schon in einer Eskalation„, sagt Silvia Benjamin. “Nach dem 7. Oktober sind die Israelis kompromissloser geworden.„
Auch ihr Stiefsohn ist nach dem Hamas-Massaker als Soldat nach Gaza abkommandiert worden. Das sei der Deal, den man mit Israel schließe. Vor wenigen Monaten hat er seinen Militärdienst endlich beendet. “Danach ist er erst mal mit mit Freunden nach Asien geflogen", berichtet die 50-Jährige. Raus aus dem Wahnsinn. Abschalten von Tod und Elend. Doch die Freude währt nur kurz. Nach seiner Rückkehr ist der 21-Jährige direkt wieder als Reservist eingezogen worden. Diesmal muss er in den Libanon. Frieden scheint im Nahen Osten nicht in Sicht.