Rund 25 Prozent der Viertklässler in Deutschland können nicht richtig lesen. So lautete das Ergebnis der internationalen Iglu-Bildungsstudie vergangenes Jahr. Und es ist nicht die einzige Studie, die Grundschülern in Deutschland ein schlechtes Zeugnis ausstellt – bereits seit längerer Zeit. In Rheinland-Pfalz machen sich die Probleme in der Grundschule zunehmend auch bei der Zahl der Sitzenbleiber bemerkbar. In diesem Schuljahr mussten so viele Kinder eine Grundschulklasse wiederholen wie lange nicht mehr.
Verband kritisiert „völlig weltfremdes System“
Aus Sicht des rheinland-pfälzischen Philologenverbands sind vor allem fehlende Sprachkenntnisse bei Eintritt in die Grundschule verantwortlich für die Misere. Der rheinland-pfälzische Philologenverband erhebt deshalb schwere Vorwürfe gegenüber Bildungsministerin Stefanie Hubig (SPD). Sie verfolge ein „völlig weltfremdes“ System des immersiven Lernens – also ein beiläufiges Lernen der Sprache. Dadurch sei „etwas ins Rutschen geraten, das wir kaum noch aufhalten können“, sagte die Vorsitzende des Philologenverbands, Cornelia Schwartz.
Migrationsanteil bis zu 97 Prozent
Besonders dramatisch scheint in diesem Jahr wieder die Lage in der Ludwigshafener Gräfenau-Schule zu sein. Dort bleiben womöglich fast ein Drittel der Erstklässler sitzen. Auch hier ist ein Problem die Sprache. Der Migrationsanteil an der Gräfenau liegt bei 97,2 Prozent. Bei 14 weiteren Grundschulen im Land liegt der Migrationsanteil bei über 75 bis 90 Prozent, 89 Schulen kommen auf einen Anteil von 50 bis 75 Prozent. Die Zahlen gehen aus einer Antwort des Bildungsministeriums auf eine Kleine Anfrage des Abgeordneten Joachim Paul (AfD) hervor.
25 Prozent der Kinder fehlen grundlegende Kompetenzen
Dass sich an Schulen mit einem besonders hohen Migrationsanteil die Probleme ballen, zeigt auch das Ergebnis der Iglu-Studie. Demnach haben Grundschulkinder mit nicht-deutscher Familiensprache besondere Defizite bei der Lesekompetenz. Gravierend ist demzufolge der Rückstand für Schüler, die Deutsch erst mit Schuleintritt gelernt haben. Und: In der repräsentativen Studie gaben 78 Prozent der 252 befragten Schulleitungen an, dass weniger als 25 Prozent der Kinder ihrer Schule über grundlegende Kompetenzen verfügen, wenn sie in die erste Klasse kommen. Das sei deutlich schwächer als das EU-Mittel.
Der Philologenverband fordert deshalb Deutsch-Intensivkurse für Kinder – und ebenso Vorschulklassen innerhalb der Kita für grundlegende Fähigkeiten, die auch deutschsprachigen Kindern zunehmend fehlten. Ein frühes Ansetzen könnte auch der Studie zufolge vor allem für jene Kinder hilfreich sein, die nicht in Deutschland geboren sind. Rund die Hälfte dieser Grundschulkinder ist bereits vor Schulbeginn nach Deutschland zugezogen und könnte daher bereits vor Schulbeginn systematisch gefördert werden.
„Integration ist die einzige Chance, die wir haben“
Das passiere aber nicht, kritisiert Schwartz. Und wenn die Grundlagenbildung „auf Sand gebaut ist, können wir alles andere vergessen“. Die Sprachlücken würden die Schüler ansonsten bis in die weiterführenden Schulen mitschleppen. „Das grenzt an Verantwortungslosigkeit.“ Sie sei sprachlos, dass die SPD-geführte Landesregierung beim Bildungserfolg der Kinder wegschaue, so die Vorsitzende des Lehrerverbands. „Integration ist die einzige Chance, die wir haben.“
Vor allem in der ersten und zweiten Klasse gibt es das „Sitzenbleiben“ eigentlich nur in der Theorie. Die Realität an den rheinland-pfälzischen Grundschulen sieht aber anders aus. Das zeigt das aktuelle Schuljahr.Schlechte Noten: In den rheinland-pfälzischen Grundschulen bleiben immer mehr Kinder sitzen
Das Bildungsministerium hält entgegen, Kinder würden nicht einfach ohne Deutschkenntnisse in die Regelklasse der Grundschule aufgenommen. Das Land verfolge bei der Sprachförderung einen Ansatz, der Deutsch-Intensivförderung und Regelklassenbesuch miteinander verbinde. Dann ist es aber schon viel zu spät, meinen Kritiker wie die oppositionelle CDU. Auch die Christdemokraten setzen sich für eine verpflichtende Vorschulklasse im letzten Kita-Jahr vor der Schule aus. Die Mainzer Ampelkoalition lehnte aber kürzlich einen Antrag im Landtag ab.
Ministerium will Sprachstand früher erheben – doch wann?
Bildungsministerin Stefanie Hubig setzt stattdessen auf kleine Anpassungen im System: Ab dem Schuljahr 2025 müssen Eltern ihre Kinder bereits ein halbes Jahr früher zur Grundschule anmelden. Die Schulen sollen nach der Anmeldung den Sprachstand der Kinder erheben. Bei Sprachdefiziten soll der Kita-Besuch für das letzte Jahr vor der Schule angeordnet werden können. Den Eltern droht ansonsten das Jugendamt oder ein Bußgeld.
Die Grundschulen im Land sind überfordert, weil viele Kinder die Sprache nicht beherrschen. Die Bildungsministerin darf das nicht länger ignorieren, kommentiert unser Landeskorrespondent Sebastian Stein.Grundschulkrise in Rheinland-Pfalz: Die Landesregierung scheitert bei der Integration
Das betrifft allerdings weniger als fünf Prozent der Kinder. „Perspektivisch wollen wir, dass alle Kinder im Alter von viereinhalb Jahren ein Sprachstandfeststellungsverfahren durchlaufen“, sagte Bildungsministerin Stefanie Hubig (SPD) damals. Wann das passiert, ist noch unklar.