Ein Gespräch mit dem Koblenzer Oberstaatsanwalt Sven von Soosten, der dort die Abteilung für sexuelle Gewalt in der Familie leitet
Sexuelle Gewalt in der Familie: Die Täter sind den Kindern oft bekannt – Oberstaatsanwalt Sven von Soosten im Interview
Kindesmissbrauch findet meist in der Familie statt. Nur in seltenen Fällen kennt das Opfer den Täter vorher nicht. Foto: dpa
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Die Polizeiliche Kriminalstatistik des Bundeskriminalamtes (BKA) hat gezeigt, dass es im vergangenen Jahr deutlich mehr Fälle von sexueller Gewalt gegen Kinder gegeben hat (wir berichteten). Unsere Zeitung hat zu diesem Themenkomplex nun ein Gespräch mit dem Koblenzer Oberstaatsanwalt Sven von Soosten geführt. Der 62-Jährige hat jahrzehntelange Erfahrung mit der Thematik und leitet in der Staatsanwaltschaft Koblenz die Abteilung „Gewalt in engen sozialen Beziehungen und Familien sowie Sexualdelikte“. Hier das Interview im Wortlaut:

Bis zu welchem Alter zählt man rechtlich gesehen als Kind?

Kinder sind vor dem Gesetz Personen unter 14 Jahren.

Gibt es in Rheinland-Pfalz seit den Corona-Lockdowns mehr Anzeigen und Verhandlungen wegen sexuellen Missbrauchs, gar schweren sexuellen Missbrauchs von Kindern?

Die Zahlen für das erste Quartal 2021 liegen noch nicht vor. Die Zahlen für 2020 indes schon. Hierbei ist eine leichte Steigerung der Anzeigen feststellbar.

Welche unterschiedlichen Grade des Missbrauches gibt es gesetzlich?

Der sogenannte einfache sexuelle Missbrauch besteht aus sexuellen Handlungen, die nicht mit einem körperlichen Eindringen verbunden sind. Von schwerem sexuellen Missbrauch ist die Rede, wenn eine Person über 18 Jahre Sex mit einem Kind hat. Auch wenn es mehrere Täter gibt, muss man von einem schweren Fall ausgehen. Und auch dann, wenn das Kind durch den Missbrauch schwere gesundheitliche Schäden davongetragen hat. Ein Fall des schweren sexuellen Missbrauchs liegt auch vor, wenn der Täter zuvor bereits schon einmal wegen Missbrauch verurteilt worden ist.

Mit welcher Strafhöhe haben Täter durchschnittlich zu rechnen?

Das Gesetz sieht für den einfachen sexuellen Missbrauch eine Freiheitsstrafe zwischen drei Monaten bis zu zehn Jahren vor, für den schweren sexuellen Missbrauch eine Freiheitsstrafe bis zu 15 Jahren. Welche Strafe der Angeklagte konkret zu erwarten hat, hängt von den individuellen Umständen von Tat und Täter ab.

Gemessen an Ihrer Erfahrung: Wo findet sexuelle Gewalt am häufigsten statt?

Sexueller Missbrauch findet überwiegend im Familienbereich statt. Wir haben ganz selten Fälle, in denen der Täter ein ihm unbekanntes Kind missbraucht hat. Dafür sind wir in Rheinland-Pfalz wohl zu ländlich strukturiert. Sollte sich jemand am eigenen Kind vergehen, ist unter Umständen ein weiterer Straftatbestand erfüllt – „Beischlaf mit Verwandten“. Darin spiegelt sich das Inzestverbot.

Gibt es das typische Milieu, in dem Missbrauch passiert?

Das ist ausgesprochen schwierig zu beurteilen. Wir haben dazu keine kriminalsoziologischen Erhebungen. Aber schwierige Familienverhältnisse sind ein Punkt. Das muss nicht einmal im finanziellen Kontext sein. Gemeint ist hier eher eine allgemeine Krise zwischen Eheleuten oder Lebenspartnern. Aber grundsätzlich kann man sagen: Das Phänomen geht querbeet durch alle Schichten.

Wie wird denn ermittelt, also wie kommen Sie den Tätern auf die Schliche?

Da gibt es keine einheitliche Linie. Die überwiegenden Fälle werden tatsächlich über das Jugendamt gemeldet. Oder die Mutter des Opfers stellt Auffälligkeiten an ihrem Kind fest und bringt das zur Anzeige. Manchmal wird die Polizei aber auch von aufmerksamen und besorgten Nachbarn herbestellt. Nach dem Motto: „Ich habe den Verdacht, dass da gerade ein Kind missbraucht wird oder wurde.“ Da muss die Polizei dann schnell handeln. Wenn das Kind noch nicht gewaschen wurde, kann der Täter durch eine Untersuchung des Opfers überführt werden.

Welche Ähnlichkeiten weisen die Fälle immer wieder auf?

Dass jemand wirklich sexuelle Handlungen an Kindern vornimmt, diese Fälle sind überschaubarer. Viel häufiger haben wir es in letzter Zeit mit dem Phänomen „Cybergrooming“ zu tun. Dabei nimmt beispielsweise ein Pädophiler Kontakt über Internetplattformen wie Snapchat zu Kindern auf und gibt sich als 15-Jähriger aus. Der Täter verstrickt sein Opfer in sexuelle Gespräche und fordert es dann dazu auf, Nacktbilder von sich zu senden. Das ist für unsere Behörde tatsächlich die einzige Form, bei der wir es mit einem Täter zu tun haben, der mit einem ihm oder ihr nicht bekannten Kind Kontakt aufnimmt. Zwar nicht im echten Leben, aber im Internet. Kinderpornografie gehört mit zu den Zuständigkeitsbereichen in unserer Behörde. Wir haben es da nicht selten mit Fällen zu tun, bei denen Kinder Bilddateien verschicken, wie sie sich beispielsweise selbst befriedigen.

Wie kann man Kinder vor sexuellem Missbrauch schützen?

Der beste Schutz ist ein eingeschränkter Internetzugang. Es ist immer wieder erschreckend, wie unsorgsam Eltern Kindern den Internetzugang über das Smartphone gewähren. Da gilt es, Einschränkungen zu machen, etwa durch regelmäßige Kontrolle der Chats. Bei Snapchat werden die Bilder aber leider nach einer Minute wieder gelöscht. Doch die Täter machen vorher Screenshots der Nacktbilder. Was den Missbrauch im familiären Bereich angeht, sieht das alles etwas anders aus. Da gibt es keine so eindeutige Handlungsanweisung meinerseits. Man könnte aber darauf achten, ob das Kind neuerdings sexualisiert spricht. Da sollte man dann schon aufmerksam werden.

Stimmt es, dass manche Missbrauchsfälle als Vergehen statt als Verbrechen gewertet werden?

Das hat nichts mit Wertung zu tun. Aber ja, in manchen Fällen hat man es rechtlich nur mit einem Vergehen zu tun. Die Novellierung des Gesetzes liegt dem Bundespräsidenten aber vor. Und dass er das unterschreibt, das ist im Grunde sicher. Wenn er es unterschrieben hat, dann gilt nach Veröffentlichung im Bundesgesetzblatt grundsätzlich für sexuellen Missbrauch von Kindern und ferner für Besitz und Weitergabe von kinderpornografischen Schriften eine Mindestfreiheitsstrafe von einem Jahr. Das heißt, dass man es dann mit dem Strafmaß eines Verbrechens – und nicht mehr mit dem eines Vergehens zu tun hat.

Der frühere Fußballer Christoph Metzelder ist laut Medienberichten zu einer Freiheitsstrafe von zehn Monaten auf Bewährung wegen Besitz und Weitergabe von Kinderpornografie verurteilt worden. In seinem Fall wurde das Delikt also noch als Vergehen gewertet?

Ja. Das würde nach der Novellierung des Gesetzes als Verbrechen zu qualifizieren sein.

Gibt es Fälle, in denen der Täter als schuldunfähig eingestuft wurde?

Fast jeder, der pädophile Neigungen hat, ist trotzdem voll schuldfähig im rechtlichen Sinne. Es gibt allerdings sehr rare Ausnahmen, wo Pädophilie als Krankheitsbild derart ausgeprägt ist, dass die Fähigkeit zur Schuldeinsicht bei der Person nicht mehr gegeben ist. Dann ist die Schuldfähigkeit des Täters ausgeschlossen. Diesen Fall habe ich aber erst zweimal erlebt. Das ist auch schon 13 Jahre her.

Das Gespräch führte Johannes Mario Löhr

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