Germanwings-Tragödie
Presseansturm auf Montabaur: Stadt im Ausnahmezustand
Nach dem Absturz der Germanwings-Maschine ist der Andrang der Medien in Montabaur enorm. Am Elternhaus des Co-Piloten haben sich Journalisten und Kameraleute aus aller Welt postiert.
Archiv/Sascha Ditscher. Sascha Ditscher/Archiv

Vor zehn Jahren rückt Montabaur in den Fokus der Weltöffentlichkeit. Nach dem Absturz der Germanwings-Maschine fällt die internationale Presse in die Kreisstadt ein, in der der Co-Pilot aufgewachsen ist. Hauptkommissar Michael Otten erinnert sich.

Für Michael Otten sieht es zunächst nach einem recht entspannten Arbeitstag aus. Der damalige Hauptkommissar wird am Morgen des 26. März 2015 von seiner Dienststelle in Bad Ems nach Montabaur beordert, um die Pressearbeit im Fall der abgestürzten Germanwings-Maschine zu übernehmen. Gerade erst ist bekannt geworden, dass der Co-Pilot Andreas Lubitz das Flugzeug absichtlich in die französischen Alpen gesteuert haben soll. Eine beispiellose Tragödie. „Also bin ich in den Westerwald gefahren.“

Nach knapp 20 Minuten steht Otten vor dem Elternhaus des Co-Piloten. Eine ruhige Wohngegend am Stadtrand von Montabaur. „Da war nix los“, erinnert sich Otten zehn Jahre später. Irgendwann trudelt der erste Journalist ein. „Ich glaube, dass er von ,Bild online’ war“, sagt er nachdenklich mit Blick auf den Rhein. Mittlerweile ist Otten stellvertretender Dienststellenleiter in St. Goarshausen. „Den Jahrestag hatte ich eigentlich gar nicht auf dem Schirm“, sagt er. Doch schnell werden die Erinnerungen wach. „Als Pressesprecher war das schon ein herausragendes Ereignis.“

Großeinsatz für die Polizei: Beamte schirmen das Wohnviertel von Montabaur mit Streifenwagen ab. Der damalige Hauptkommissar Michael Otten ist für die Pressearbeit in den Westerwald beordert worden.
Fredrik von Erichsen/dpa

Gegen Mittag treffen weitere Reporter ein. Es ist die Ruhe vor dem Sturm. Nur Stunden später wird ein medialer Tsunami über Otten hineinbrechen, der selbst die Havarie des Tankers „Waldhof“ an der Loreley weit in den Schatten stellt, den er 2011 als Pressesprecher der Polizei begleitet hatte. Schnell hat sich ein Pulk von Kameraleuten und Fotografen gebildet, der sich – von Streifenwagen flankiert – quer zum Elternhaus aufgebaut hat. Und Otten ist mittendrin. „Wir hatten damals ja quasi ein Infoschild auf dem Kopf“, sagt er. „Ich habe mir den ganzen Tag über den Mund fusselig geredet.“

Dabei hat er eigentlich nichts zu sagen. Es gilt eine weitgehende Nachrichtensperre. Die Ermittlungen laufen auf Hochtouren. „Da konnte man nicht viel falsch machen“, sagt er. Und trotzdem wird er von den Journalisten immer wieder gefragt. Was wissen Sie? Was ist passiert? Gibt es neue Erkenntnisse? Otten weiß es selbst nicht. Die Ermittlungen werden aus Nordrhein-Westfalen koordiniert. „Ich habe die meisten Fragen mit einem Schulterzucken beantwortet“, blickt der Polizist zurück. „Berichtet, was ihr seht.“

Co-Pilot Andreas Lubitz, der die Germanwings-Maschine absichtlich in die französischen Alpen gesteuert haben soll, ist in Montabaur aufgewachesen und zur Schule gegangen.
Foto-Team-Müller/dpa

Und das ist nicht sonderlich viel. Eigentlich fast gar nichts. Alle Rollläden am Elternhaus sind runtergelassen. Was hinter den Mauern im Jugendzimmer von Andreas Lubitz geschieht, bekommt draußen niemand mit. Beweismittel werden sichergestellt. „Einmal hat ein Kollege einen Karton rausgetragen“, erinnert sich Otten. Sofort richten sich Dutzende Kameras auf die gefaltete Pappe. Kurzes Blitzlichtgewitter. Dann ist schon wieder alles vorbei. „Ansonsten passierte eigentlich nichts.“

Dennoch wollen immer mehr Journalisten dieses Nichts in Worte und in Bilder fassen. Über dem Wohnviertel kreisen Helikopter. Der schmale Weg vor Lubitz’ Elternhaus ist längst mit Bussen aus dem Pressetross verstopft. Irgendwann haben die großen Übertragungswagen der Fernsehsender dann auch sämtliche Nachbarstraßen zugeparkt. Otten muss sie umleiten, um ein Verkehrschaos zu verhindern. „Wir haben sie auf einen nahen Platz gelotst“, erinnert er sich. Die Schutzpolizei fährt sicherheitshalber Streife.

Auf dem Flugplatz des Luftsportclubs Westerwald hat Andreas Lubitz seinen großen Traum vom Fliegen erfüllt.
Fredrik von Erichsen/dpa

Montabaur ist im Ausnahmezustand. Aus der Fußgängerzone berichtet ein Nachrichtensender rund um die Uhr. Immer wieder wird die Moderatorin live vor der Kirche zugeschaltet, ohne Neuigkeiten vermelden zu können. Viele Passanten ergreifen die Flucht, wenn ihnen Mikros unter die Nase gehalten werden. Und rund um das Mons-Tabor-Gymnasium, an dem Andreas Lubitz 2007 sein Abitur gemacht hat, schleichen Kamerateams über den Pausenhof. Trotz der Osterferien gehen so viele telefonische Anfragen ein, dass der Direktor die Sekretärinnen irgendwann nach Hause schickt. Fragen werden grundsätzlich nicht beantwortet. In der Schule haben sie ein Kriseninterventionsteam eingerichtet und stehen in Kontakt mit Psychologen.

Auch das Gelände des Luftsportclubs Montabaur am Ortsausgang wird belagert. Auf dem Flugplatz hat Lubitz seinen großen Traum vom Fliegen schon im Alter von 14 Jahren realisiert und seinen ersten Pilotenschein gemacht. Im Verein sind sie erschüttert über die Anschuldigungen an ihr beliebtes Mitglied, das sie gegenüber unserer Zeitung als anständig, verantwortungsvoll und talentiert in Erinnerung haben. Viele Jugendliche im Verein eifern ihrem großen Vorbild nach, das es vom Segelflieger bis ins Cockpit eines Airbus A320 gebracht hat und jetzt die ganze Welt bereist. Jetzt stehen sie unter Schock.

Der Presseandrang ist international. „Europa war praktisch komplett vertreten“, betont Otten. Belgien, Frankreich, Großbritannien, Rumänien. Selbst aus Übersee haben sie Journalistenteams in den Westerwald eingeflogen, um über den Co-Piloten aus Montabaur zu berichten. Japaner, Australier und US-Amerikaner. Das stellt Otten mitunter vor sprachliche Herausforderungen. „Wer nicht Deutsch oder Englisch sprach, kam nicht zum Zug“, erklärt er.

Manchmal muss der Polizeisprecher ausländischen Journalisten sogar Nachhilfe in Geografie geben. Ein osteuropäisches Fernsehteam ist Otten dabei besonders in Erinnerung geblieben. „Die waren am Frankfurter Flughafen gelandet, über die Autobahn gefahren und dachten nun, dass sie im Schwarzwald sind“, sagt Otten und lacht. Falsch! „Westerwald“, diktiert der Beamte dem Team geduldig in den Block.

Und immer wieder muss er „Montabaur“ buchstabieren. „Dutzende Mal habe ich das gemacht“, sagt Otten. Und „Bad Ems“, wo sich seine Dienststelle befindet. Ein Japaner fragt, wie viele Einwohner die Kreisstadt hat. Andere wollen einfach nur wissen, wo man in Montabaur essen und übernachten kann. Da muss Otten passen, weil er sich selbst nicht sonderlich gut in der Stadt auskennt. Ein naher Imbissbesitzer dürfte an diesen beiden Tagen das Geschäft seines Lebens gemacht haben.

Die Anwohner hingegen reagieren zunehmend genervt auf den Presseansturm. Jedem, der im Wohnviertel unterwegs ist, wird ein Mikrofon entgegengereckt. Bei der Polizei gehen die ersten Beschwerden ein. Mitunter fragen Journalisten irrtümlicherweise sogar Journalisten. „Neighbour, neighbour?“ Sind Sie ein Nachbar? Wer stehen bleibt, ist schnell von einer Traube von Kameraleuten umringt. „Wenn ein Passant signalisiert hat, dass er was sagen will, haben sie ihn gleich überfallen“, erinnert sich Otten, der kopfschüttelnd danebensteht. „Das war von der Konzentration der Masse her das einzige Mal in meiner Karriere, dass ich so was erlebt habe“, sagt der Beamte rückblickend.

Eineinhalb Tage dauert der wohl skurrilste Einsatz in seiner Laufbahn. Dann rückt die Presse wieder ab. Der Spuk ist vorüber. Dutzende Male wird Otten weltweit zitiert. Aber er hat bis heute kein einziges Mal nachgeforscht, wie oft genau. „Ich bin auch noch nie darauf angesprochen worden“, sagt er. Nicht mal von Kollegen. Auch diesmal will er nicht mit Foto in der Zeitung stehen.

Otten hat das Thema Germanwings ohnehin weitgehend verdrängt. Nur an die Trauerfeier für die drei verstorbenen Passagiere aus dem Westerwald kann er sich noch gut erinnern. „Das war sehr ergreifend“, sagt er. Zum zehnten Jahrestag der Tragödie blickt er jetzt aber noch mal zurück. „Ich habe mir vorgenommen, mir jetzt die ARD-Dokumentation anzuschauen.“

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