Gegen 20 Uhr gingen Warnungen vor Pegelstand von sieben Metern in Altenahr raus - Evakuierungsaufruf kam um 23.09 Uhr
Landesamt sah den Pegelstand von sieben Metern um 20 Uhr voraus – Evakuierungsaufruf erfolgte um 23.09 Uhr
Die Aufzeichnungen des Landesamtes für Umwelt (LfU) zum Wasserstand der Ahr zeigen für alle ersichtlich: Relativ früh am 14. Juli gab es ein kleines Plateau. Danach stieg das Wasser rapide. Bei 5,75 Meter riss der Pegel ab, zu erkennen ist das an der gepunkteten Linie. Danach stützte sich das LfU auf Computermodelle. Die Prognose für die Nacht auf den 15. Juli: sieben Meter.
Grafik: Landesamt für Umwelt

Bad Neuenahr-Ahrweiler. Das Mainzer Landesamt für Umwelt hat am 14. Juli schon um kurz nach 20 Uhr eine Flutwelle von sieben Metern für die frühen Morgenstunden des 15. Juli im Ahrtal vorhergesagt. Das geht aus einem Diagramm hervor, das unserer Zeitung vorliegt. Wie der Abteilungsleiter Hydrologie, Thomas Bettmann, auf Anfrage unserer Zeitung bestätigte, ist die Prognose mithilfe von Computermodellen erstellt und dann automatisiert an Landkreise und Katwarn weitergegeben worden.

Aktualisiert am 27. Juli 2021 07:55 Uhr

Gegen 20.45 Uhr wurde demnach der Pegel in Altenahr beim Stand von 5,75 Metern von den Fluten weggerissen. Ein Vorfall, den der Diplom-Ingenieur noch nie erlebt hat. Danach fiel die digitale Datenübermittlung aus. Die Hydrologen des Landesamts mussten deshalb mit Simulationen arbeiten, in die vor allem die Niederschlagsmengen einflossen. Und es schüttete bis tief in die Nacht hinein fast ohne Unterlass wie aus Eimern. 120 bis 140 Liter pro Quadratmeter, sagt Hydrologe Bettmann. Nicht die befürchteten 200 – dafür aber flächendeckend und über rund zwölf Stunden. Hinzu kam, dass der Starkregen auf gesättigte Böden traf, was die Lage zusätzlich verschärfte. Das Wasser konnte nicht versickern, floss fast komplett ab und türmte sich zu einer gigantischen Flutwelle auf, die wie ein Tsunami durchs enge Tal rauschte.

Auf wie viele Meter die Ahr in dieser verheerenden Katstrophennacht tatsächlich anschwoll, muss das Landesamt noch exakt auswerten. Denn Messungen ohne Pegel sind für die Wissenschaftler ein Stück weit wie ein Blindflug. Aber man geht von rund acht Metern aus. Die Folgen sind katastrophal. Auch weil erst um 23.09 Uhr die Meldung rausging, einen jeweils 50 Meter breiten Streifen rechts und links des Flusses zu evakuieren. Viel zu spät. Und auch viel zu schmal. Die Flutkatastrophe forderte am Ende mindestens 132 Todesopfer, 74 Menschen werden weiter vermisst.

Was sich da am 14. Juli zusammenbraute, war auf dem Diagramm des Landesamts für Umwelt auch für Laien sehr gut zu erkennen. Schon am frühen Nachmittag machte die Kurve einen scharfen Knick nach oben. In den folgenden Stunden verwandelte sich die Ahr von einem harmlosen Flüsschen in einen tödlichen Strom. Innerhalb weniger Stunden schwoll der Pegelstand bei Altenahr von 90 Zentimetern auf fast sechs Meter an. Zum Vergleich: Beim Hochwasser von 2016 wurden „nur“ gut 3,70 Meter erreicht – mit schweren Folgen.

Um 17.17 Uhr rief das Landesamt für Umwelt schließlich die höchste Warnstufe „lila“ aus. Da stand der Pegel schon bei 2,78 Metern. Um 17.40 Uhr trat der Krisenstab in der Kreisverwaltung um Landrat Jürgen Pföhler und Brand- und Katastrophenschutzinspekteur Michael Zimmermann zusammen. Sie mussten hilflos mit ansehen, wie das Wasser stieg und stieg. Bis sich am frühen Abend plötzlich eine allgemeine Erleichterung breit machte.

Landrat Pföhler sprach im Exklusivinterview mit unserer Zeitung am Sonntag von einem Schlüsselmoment: „Der prognostizierte Pegelstand von fünf Metern wurde um 19.09 Uhr vom Hochwassermeldedienst Rheinland-Pfalz auf gut vier Meter herunterkorrigiert. Das muss man wissen“, sagte er. Tatsächlich hatte der Deutsche Wetterdienst (DWD) seine Prognosen für den Pegel Altenahr am frühen Abend kurzeitig gesenkt, dies aber rasch wieder revidiert, wie Recherchen unserer Zeitung ergaben.

Doch bei den Verantwortlichen vor Ort kam diese Korrektur offenbar nicht zeitnah an. Sie gingen offenbar weiter von der trügerischen Annahme aus, dass sich die Lage entspannt hatte. Das bestätigt auch das Telefonat eines Sinziger Feuerwehrmanns, das von Passanten am 14. Juli gegen 21.30 Uhr zufällig mitgehört wurde. Demnach war die dortige Feuerwehr darüber informiert worden, dass sich der Scheitelpunkt zu diesem Zeitpunkt bereits in Ahrweiler befinde. Man rechnete an der Ahrmündung noch mit einem Anstieg der Flut um eineinhalb bis zwei Meter. Besorgniserregend, aber beherrschbar.

Nach 19.09 Uhr herrschte jedenfalls kollektives Aufatmen im Krisenstab. „Wenn wir uns mal das sogenannte Jahrhunderthochwasser von 2016 im Ahrkreis anschauen, war damals der höchste Pegelstand 3,71 Meter“, erinnert sich Pföhler. „Da sage ich mal wertend für alle diese Einheiten: Gut. Damals hatten wir 3,71, jetzt haben wir vier.“

Etwa zu der Zeit stieß dann auch Innenminister Roger Lewentz (SPD) zur technischen Einsatzleitung hinzu. Lewentz sprach von einem ruhig und konzentriert arbeitenden Krisenstab, den er gegen 19.30 Uhr wieder mit dem Gefühl verließ, dass die Lage im Griff sei. Einen Anlass, die Bevölkerung aus dem Gebiet zu evakuieren, sah man jedenfalls nicht. „Auch Minister Lewentz hatte keine andere Einschätzung“, betonte Pföhler am Sonntag.

Die Folgen waren fatal, denn der Pegel in Altenahr sank nicht. Ganz im Gegenteil: Er überschritt sogar die zuvor prognostizierten fünf Meter und schnellte in nicht mal zwei Stunden auf 5,75 Meter hoch. Danach riss der Pegel selbst ab, die Fluten hatten ihn mitgerissen. Der Wasserstand veränderte sich somit nicht mehr. Das fiel in der Einsatzzentrale aber erst später auf. „Irgendwann gegen 22 Uhr war klar, der Pegel ändert sich nicht mehr, da ist irgendwas“, sagte Fachbereichsleiter Erich Seul am Sonntag. Die Vorhersage des Landesamts für Umwelt hatte allerdings schon zwei Stunden früher gezeigt, welche Wasserwand auf das Ahrtal zurollt. Warum also sind wertvolle 120 Minuten verstrichen?

Klare Antworten gab es auch am Montag bei einer Pressekonferenz zur Lage im Katastrophengebiet nicht. Auf dem Podium: Innenminister Lewentz und Landrat Pföhler. Man wollte offenbar einen Schulterschluss demonstrieren nach Tagen, in denen sich die beiden nicht gemeinsam zur Katastrophe im Ahrtal geäußert hatten.

Noch einmal beschrieb der Landrat, dass alle Beteiligten im Krisenstab zunächst erleichtert waren, aufatmeten – und dann von der Realität überrollt wurden. „Es war wie ein Tsunami, der alle überfordert hat“, bekräftigt Pföhler. Die Rettungskräfte seien ebenso von der Situation überfordert gewesen wie die Kräfte im Lagezentrum des Landes bei der ADD, „weil es so etwas noch nie in Deutschland gegeben hat“. Worte, die er im Gespräch mit unserer Zeitung später noch mal wiederholte. An das Land gerichtet, forderte er, dass beim aktiven Hochwasserschutz jetzt endlich etwas getan werden müsse. „Für mich stellt sich auch die Frage: Müssen wir die Ahr womöglich verlegen?“

Von unseren Redakteuren Dirk Eberz, Manfred Ruch, Angela Kauer-Schöneich und Anke Mersmann