Der Sozialwissenschaftler zieht dabei nach rund fünf Jahren eine Zwischenbilanz mit Licht und Schatten. Gerade in den Jahren 2018 und 2019 haben demnach viele Migranten einen Job gefunden. Und rund die Hälfte davon hat sogar einen Arbeitsplatz als Fachkraft, Spezialist oder als Experte ergattert. Doch die Zahl der Hartz-IV-Empfänger und Arbeitslosen bleibt weiter erschreckend hoch. Besonders bei Frauen mit Flüchtlingshintergrund sieht es bisher düster aus. Im Gespräch mit unserer Zeitung erklärt Prof. Sell, woran das liegt und wie sich die aktuelle Corona-Krise auf die Situation von Flüchtlingen ausgewirkt hat.
Lassen Sie uns mal fünf Jahre nach der Flüchtlingskrise eine Zwischenbilanz ziehen: Wie viele Flüchtlinge haben in der Zwischenzeit in Rheinland-Pfalz eine sozialversicherungspflichtige Beschäftigung gefunden?
In Rheinland-Pfalz hatten wir in den vergangenen Jahren eine deutliche Zunahme der Flüchtlinge, die eine sozialversicherungspflichtige Beschäftigung gefunden haben. Die aktuellsten Zahlen, die uns aus dem Land vorliegen, sind von 2019, also noch vor der Corona-Krise. Damals gab es mehr als 16.000 solcher Beschäftigten aus den Asylherkunftsländern. Zum Vergleich: Im Herbst 2015 waren es nur knapp 2000. Vor allem in den Jahren 2018 und 2019 gab es da einen beeindruckenden Beschäftigungsaufbau. Gleichzeitig hatten im vergangenen Jahr 18.211 Flüchtlinge im Land einen Minijob, 45.476 Flüchtlinge bezogen Hartz-IV-Leistungen. 9425 waren arbeitslos gemeldet.
Welche Qualifikationen bringen die Flüchtlinge denn konkret mit?
Eine Hälfte der Menschen, die zu uns gekommen sind, verfügt über keine oder nur eine rudimentäre Qualifikation. Wenn wir einen Blick auf die Flüchtlinge werfen, die einen Job suchen, dann wird man feststellen, dass mindestens 36,3 Prozent keinen Schulabschluss haben. Weitere 12 Prozent besitzen so etwas wie einen Hauptschulabschluss. Und wahrscheinlich sind die Werte für diejenigen, die keinen Schulabschluss haben, noch höher. Denn die Statistik weist für immerhin 20,6 Prozent der Menschen mit einem Fluchthintergrund keine Angabe zu einem Schulabschluss aus. Somit kann man hier plausibel davon ausgehen, dass darunter viele ohne irgendeinen Schulabschluss sind. Hinzu kommt natürlich eine große Barriere für eine Erwerbsarbeit – die Sprachprobleme.
In welchen Branchen sind die Flüchtlinge, die einen sozialversicherungspflichtigen Job ergattert haben, denn untergekommen?
Besonders auffällig ist, dass die gesamtwirtschaftlich gesehen überschaubaren Sektoren Leiharbeit und Gastgewerbe so stark vertreten sind. In diesen Branchen sind überdurchschnittlich viele Flüchtlinge untergekommen. Um das mal am Beispiel von Rheinland-Pfalz deutlich zu machen: Im Land war 2019 fast jeder dritte sozialversicherungspflichtig Beschäftigte aus einem der außereuropäischen Asylherkunftsländer in der Leiharbeit (17,3 Prozent) oder im Gastgewerbe (12,9 Prozent) gelandet – von den deutschen Beschäftigten sind es gerade mal 3,7 Prozent. Weitere überrepräsentierte Branchen sind Handel, Instandhaltung und Reparatur von Fahrzeugen (15,1 Prozent) sowie das Baugewerbe (8,2 Prozent).
Gehen die meisten Flüchtlinge eher einfachen Tätigkeiten nach?
In Rheinland-Pfalz arbeiten 53 Prozent der Flüchtlinge in Helferberufen. Zum Vergleich: Bei deutschen Beschäftigten sind es 14,3 Prozent. Hinzu kommt: Sie arbeiten vor allem in einigen wenigen Branchen, die oftmals durch Beschäftigungsinstabilität und niedrige Löhne charakterisiert sind.
Wie sieht es denn mit Fachkräften und Spezialisten aus? Sind auch viele hoch Qualifizierte nach Deutschland gekommen, wie zunächst erhofft worden war?
Die gibt es auch. Und darunter sind durchaus auch händeringend gesuchte hoch qualifizierte Kräfte. Um nur ein Beispiel zu nennen: 2019 haben deutschlandweit 4800 syrische Ärzte in Kliniken und Praxen praktiziert. Zudem werden in der rheinland-pfälzischen Beschäftigungsstatistik von 2019 immerhin 38,5 Prozent der Arbeitnehmer aus Fluchtstaaten als Fachkräfte geführt. 2,9 Prozent arbeiten demnach als Spezialisten und 5,5 Prozent sogar als Experten.
Die aktuellsten Daten aus Rheinland-Pfalz stammen aus der Zeit vor Corona. Wie anfällig sind die Jobs von Flüchtlingen in der Krise?
Es kann nicht überraschen, dass die Arbeitslosigkeit der Flüchtlinge in den ersten Corona-Monaten 2020 um 38 Prozent nach oben gegangen ist. Bis zum Sommer hielt dieser Trend an. Seitdem sinkt die Arbeitslosigkeit wieder. Und auch die Beschäftigung ist seit Juli wieder angestiegen. Das ist eine ebenso erfreuliche wie auch überraschende Entwicklung. Und die Fachkräfte unter den Migranten sind kaum von Arbeitslosigkeit betroffen gewesen. Aber das Problem ist derzeit, dass die, von denen normalerweise viele den Einstieg in einen Job geschafft hätten, seit dem Frühjahr keinen Zugang mehr finden. Denn die meisten Unternehmen stellen kaum oder viele weniger ein als sonst. Zugleich hat es massive Einschränkungen bei den Sprach- und Integrationskursen gegeben, was sich in der nächsten Zukunft als eine große Hürde erweisen wird. Auch viele Hilfen von ehrenamtlich Engagierten mit ihren Netzwerken sind Corona-bedingt eingedampft worden.
Wie ist es denn speziell um die Chancen von Frauen mit Flüchtlingshintergrund auf dem Arbeitsmarkt bestellt?
Hier müssen wir ein echtes Problem zur Kenntnis nehmen: Die Beschäftigungszahlen bei geflüchteten Frauen sehen besonders schlecht aus. Nach fünf Jahren sind weniger als 30 Prozent in irgendeiner Form – und sei es mit einem Minijob – erwerbstätig. Man muss feststellen, dass viele Frauen nicht nur von der Arbeitsmarktintegration ausgeschlossen sind, sondern sie ziehen sich oftmals generell zurück in die Rolle der Mutter, mit der dann verbunden wird, an keinem Sprach- und Integrationskurs teilnehmen zu müssen. Das wird natürlich fatale Folgewirkungen in unserer Gesellschaft haben.
Woran liegt das?
Natürlich spiegelt das teilweise das vormoderne Rollenverständnis vieler Zuwanderer wider. Aber es wird sich höchstwahrscheinlich bitter rächen, wenn man diese Exklusionsprozesse nicht wenigstens offen – und das bedeutet in diesem Fall: kritisch – anspricht und unbedingt aufzubrechen versucht.
Der Anteil der Bezieher von Hartz-IV-Leistungen unter Flüchtlingen bleibt weiter hoch. Welche Chancen haben sie, auf dem deutschen Arbeitsmarkt Fuß zu fassen?
Die Zahl der Hartz-IV-Empfänger unter Menschen aus Asylherkunftsstaaten verharrt auf einem hohen Niveau. Aktuell sind es deutschlandweit rund 979.000. Zu Rheinland-Pfalz liegen keine aktuellen Zahlen vor. Im vergangenen Jahr waren es 45.476. Da tut sich kaum was.
Woran hapert es denn?
Mich überrascht das nicht, wenn man an den hohen Anteil an Helfertätigkeiten denkt, der den Arbeitsmarkt für Flüchtlinge charakterisiert: Man muss sehen, dass man von den dort erzielbaren Einkommen kaum über die Runden kommen kann, geschweige denn eine Familie zu versorgen in der Lage ist. Ein Problem, das ja auch die betroffenen Einheimischen haben. Anders formuliert: Selbst mit einer Erwerbsarbeit werden viele Menschen aus den Asylherkunftsländern und ihre Familien auf aufstockende SGB-II-Leistungen (Hartz IV) angewiesen sein – und das möglicherweise auf Jahre. Die Verfestigung des Niveaus der Hartz-IV-Leistungen bei Menschen aus den Asylherkunftsländern, die zu beobachten ist, verdeutlicht das.
Wagen Sie mal eine Prognose: Wie wird sich die Situation für Geflüchtete in Rheinland-Pfalz in Zukunft entwickeln?
Ich halte es da eigentlich mit dieser Lebensweisheit: Prognosen sind schwierig, besonders wenn sie die Zukunft betreffen. Derzeit sind einfach zu viele Unsicherheitsfaktoren gegeben: Wie lange noch wird die Corona-Pandemie ihre zerstörerischen Schneisen schlagen? Wann werden vor allem die für Flüchtlinge besonders relevanten Branchen wie die Gastronomie und andere Dienstleistungen wieder hochfahren? Werden wir durch gezielte Förderung verhindern, dass eine nicht kleine Gruppe an Geflüchteten nicht mehr ausreichend vorbereitet wird auf eine eigene Erwerbstätigkeit? Das war erst der Anfang der Liste mit Fragen. Deshalb: siehe Lebensweisheit.
Das Gespräch führte Dirk Eberz