Innenminister Roger Lewentz
Weitere Aussagen von Lewentz zur Flüchtlingskrise in unserem Interview im Überblick:
Die Lage in Deutschland: „Es kommen weiter bis zu 10.000 Flüchtlinge pro Tag nach Deutschland.“
Die Lage in Rheinland-Pfalz: „500 bis 800 Menschen stehen jeden Tag vor unserer Tür und müssen menschenwürdig untergebracht werden.
Erstaufnahmeeinrichtungen in Rheinland-Pfalz: „Zu Beginn des Jahres hatten wir weniger als 2000 Plätze. Angestrebt werden 20.000 Plätze.“
Kompetenz-Chaos in Mainz? „Wir haben in der Landesregierung entschieden, dass diese große Aufgabe auf mehrere Schultern verteilt wird.“
Beschaffung von Wohnraum für Flüchtlinge: „Wir werden nicht auf das Instrument der Beschlagnahme privaten Wohnraums zurückgreifen. Wir brauchen große Einrichtungen, die besser zu organisieren sind.“
Das Klima zwischen allen Innenministern: „Sehr kollegial. In den Runden der Innenminister spielen die politischen Auseinandersetzungen zwischen Herrn Seehofer und Frau Merkel keine Rolle.“
Asylanträge: „Die Verfahren dauern bislang extrem lange. So kann das nicht weitergehen.“
Abschiebe-Vorbild Bayern? „Wir haben einen Weg gewählt, den ich für viel klüger halte: ein freiwilliges Ausreiseprogramm.“
Die anderen EU-Staaten: „Man hat außerhalb von Deutschland Zeit geschunden und uns allein gelassen mit dem Problem.“
Transitzonen: „Diese Lager kann und will ich mir kaum vorstellen. Der Vorschlag ist nicht durchdacht.“
Mit Erdogan reden? „Die Reduzierung der Flüchtlingsströme geht nur mit der Türkei. Dann muss man auch mit der Türkei reden.“
AfD-Politiker Björn Höcke bei „Günther Jauch“: „Man hat ihn Parolen verkünden lassen, die im öffentlich rechtlichen Fernsehen nichts verloren haben.“
Hier das gesamte Interview im Wortlaut:
Herr Minister: Jede Familie, jeder Freundeskreis, jeder Parteiverband redet über die Flüchtlingsfrage. Wie ernst ist die Lage in Deutschland?
Wir haben die extreme Herausforderung zu meistern, dass seit dem 5. September über 440.000 Flüchtlinge nach Deutschland gekommen sind. Und es kommen weiter bis zu 10.000 Flüchtlinge pro Tag nach Deutschland. Kurz vor dem Winter Wohnraum für alle finden, warme Kleidung besorgen und diese Menschen verpflegen: Jeder kann sich vorstellen, was das bedeutet.
Und wie ist die Lage in Rheinland-Pfalz?
Bis Ende des Jahres erwarten wir mehr als 40.000 Flüchtlinge in Rheinland-Pfalz. Das zuständige Bundesamt für Migration und Flüchtlinge sah sich bisher aber nur in der Lage, uns gerade mal 22 Entscheider zur Bearbeitung der damit verbundenen 40.000 Asylanträge zuzuweisen. Die Verfahren dauern deshalb bislang extrem lange. Es vergehen viele Monate, bis wir und auch die Flüchtlinge Klarheit haben. Das betrifft auch die Menschen, die kein Bleiberecht haben. Das Bundesamt ist personell viel zu schlecht aufgestellt. So kann das nicht weitergehen. Wir haben das bei dem Gespräch der Innenminister mit der Kanzlerin und Innenminister de Maizière stark moniert. Frank-Jürgen Weise, der neue Leiter des Amtes, war dabei. Wir hoffen, dass da sehr schnell etwas passiert.
Womit rechnen Sie: Wie viele Flüchtlingen wird Deutschland bis Ende dieses Jahres aufgenommen haben?
Innenminister Roger Lewentz
Wir haben im Sommer Druck gemacht, damit der Bundesinnenminister seine Zahlen von 400.000 auf 800.000 korrigiert. Wenn die Menschen, die im Moment erkennbar auf dem Balkan unterwegs sind, alle zu uns kommen, dann wird 2015 die Zahl von einer Million auf jeden Fall erreicht.
Wie viele Flüchtlinge müssen Nacht für Nacht neu in Rheinland-Pfalz untergebracht werden?
Nach Rheinland-Pfalz kommen im Moment durchschnittlich jeden Tag 500 bis 800 Menschen. Wir haben die Verantwortung, über die Entwicklungsagentur des Innenministeriums den Wohnraum für die Erstunterbringung zur Verfügung zu stellen – etwa in Kasernen, Gewerbeimmobilien oder Zelten. Das ist eine enorme Herausforderung. Wir arbeiten sozusagen völlig auf Sicht. Das heißt: Wir sind froh, wenn wir den nächsten Tag bewältigt bekommen. Das geht bisher noch, auch dank eines unglaublichen Engagements von ehrenamtlichen Helfern beim THW, beim Roten Kreuz, bei allen anderen Hilfsorganisationen, bei Kirchen, bei den Mitarbeiten vor Ort. Die Ehrenamtlichen haben Familie und oft auch einen Beruf. Sie sind mittlerweile am Rand ihrer Leistungsfähigkeit. Auch die Hauptamtlichen leisten Unglaubliches.
Ein Ende ist nicht absehbar?
Wir haben die Kanzlerin gefragt, ob sie uns sagen kann, wann man damit rechnen darf, dass die Flüchtlingszahlen zurückgehen werden. Sie konnte uns keine Antwort geben. Es ist also im Moment nicht absehbar. Wir hoffen auf die Gespräche mit der Türkei. Wir hoffen darauf, dass die deutsche Regierung sich endlich auf der europäischen Ebene durchsetzen kann, damit auch die anderen Länder Flüchtlinge aufnehmen. Es kann nicht sein, dass diese Staaten nur dabei sind, wenn Agrarsubventionen und Strukturfonds verteilt werden. Auch bei der Flüchtlingsfrage gilt: Wir haben eine gemeinsame Wertegemeinschaft geschaffen. Dann muss man auch Lasten gemeinsam tragen. Ich erwarte, dass Länder wie Polen und Spanien auch die ihnen möglichen Kontingente aufnehmen, gemessen an ihrer Leistungsfähigkeit und Einwohnerzahl.
Gilt das auch für Österreich, das derzeit Hunderttausende Flüchtlinge einfach nach Deutschland durchreicht?
Das gilt für alle. Die Österreicher leisten im Moment einen ganz eigenen Beitrag entlang der dortigen Transportrouten. Auch dort wird viel Hilfe geleistet. Am Schluss geht es aber um die Frage, nicht nur die Durchreise zu organisieren, sondern auch den Verbleib gemeinschaftlich hinzubekommen. Da sind die Österreicher genauso wie wir gefordert.
Haben Sie schon erwogen, den Katastrophenfall für Rheinland-Pfalz auszurufen – so wie der Landrat des hessischen Main-Taunus-Kreises?
Dafür gibt es bei uns überhaupt keinen Anlass. Land und Kommunen bekommen das bisher hin. Wir brauchen den Katastrophenfall nicht. Wir werden nicht auf das Instrument der Beschlagnahme privaten Wohnraums zurückgreifen. Die Lösung der Wohnraumfrage für die Erstaufnahmen liegt eh nicht in der Kleinteiligkeit. Wir brauchen große Einrichtungen, die besser zu organisieren sind. Deswegen sind uns Kasernen sehr willkommen.
Was wissen wir über die Flüchtlinge, die derzeit zu uns kommen?
Es sind jetzt überwiegend Flüchtlinge aus Syrien, Eritrea, Irak, Somalia und Afghanistan. Flüchtlinge vom Westbalkan sind nur noch wenige dabei. Es sind viele jüngere Männer dabei, aber auch nach wie vor viele Familien, oft mit sehr jungen Kindern. Ich habe in einer Einrichtung ein Baby gesehen, das in Deutschland zur Welt gekommen ist. Es war 18 Tage alt, die Familie lebt in einer Gemeinschaftsunterkunft in der Kaserne.
Es heißt, dass 20 bis 30 Prozent der vermeintlichen Syrer gefälschte Papiere haben und aus ganz anderen Staaten kommen. Welche Erkenntnisse haben Ihre Sicherheitsbehörden darüber?
Es gibt Passmissbrauch. Es gibt verkaufte oder gefälschte Pässe. Bei den Identitätsfeststellungen kriegen wir das auch in aller Regel raus. Die kolportierten Dimensionen kann ich aber nicht bestätigen.
Sie sind in diesem Jahr Chef der Innenministerkonferenz aller Bundesländer. Wie ist die Abstimmung zwischen dem Bund und den Ländern in der Flüchtlingsfrage organisiert?
Wir haben über die Innenministerkonferenz viele persönliche Treffen und Telefonschaltkonferenzen der 16 Innenminister mit dem Bundesinnenminister.
Täglich ?
Telefonkonferenzen teilweise mehrfach täglich – um uns sehr eng abzustimmen. Das funktioniert auch sehr gut. Wir hatten zudem das Spitzengespräch bei der Bundeskanzlerin, an der auch die Verteidigungsministerin teilgenommen hat – weil wir alle Bundeswehrliegenschaften, die frei sind oder die frei gemacht werden können, nutzen wollen, weil wir Unterstützung der Bundeswehr bei der Registrierung oder an anderer Stelle gut gebrauchen können. Wir koordinieren uns sehr intensiv, sprechen sehr viel miteinander. Deshalb ist es uns auch bewusst, wie schwierig es für die bayerischen Kollegen ist, die ja zunächst das Gros der Ankünfte tagtäglich bewältigen müssen. Wir haben von Anfang an fest vereinbart, dass wir den „Königsteiner Schlüssel“ einhalten. Das heißt: Jedes Bundesland nimmt gemäß seiner Einwohnerzahl und Finanzkraft Flüchtlinge auf.
Im Falle von Rheinland- Pfalz klappt das noch nicht ganz…
Wir haben im Moment ein Minus. Das hat damit zu tun, dass die Flüchtlinge vielfach ihnen bekannte größere Städte wie Dortmund, Hamburg, Berlin ansteuern. Von dort werden sie dann weiter verteilt. Zeitverzögert werden wir dann selbstverständlich den Königsteiner Schlüssel wie alle Bundesländer einhalten. In den Stadtstaaten ist dieser Verteilschlüssel aber schon jetzt ein Problem. Dort ist Wohnraum knapp. Die Stadtstaaten kommen an die Grenzen Ihrer Leistungsfähigkeit.
Wie ist das Klima zwischen Bayern und den anderen Bundesländern auf dieser Arbeitsebene?
Sehr kollegial. Sehr daran orientiert, dass wir eine Herausforderung haben, die wir gemeinsam meistern müssen. In den Runden der Innenminister spielen die politischen Auseinandersetzungen zwischen Herrn Seehofer und Frau Merkel keine Rolle. Wir haben tagtäglich die Aufgabe zu bewältigen, die sich mit den morgendlichen Zugangszahlen stellt. Da müssen wir sehen, dass wir die Bayern entlasten. Neben dem politischen Austausch besprechen wir Innenminister in diesen Konferenzen sehr konzentriert die organisatorischen Fragen.
Es gibt also Polit-Shows für die Fernsehkameras und eine Arbeitsebene, die ganz anders funktioniert?
Unsere Arbeitsebene funktioniert partei- und länderübergreifend. Das, was von Einzelnen für die Fernsehkameras geboten wird, funktioniert nicht so, wie Ministerpräsident Seehofer sich das vorgestellt hat, wenn man sich die Umfragen sich anschaut.
Sie waren mit Bundesinnenminister de Maizière in Brüssel bei den Beratungen auf EU-Ebene dabei. Welchen Eindruck haben Sie dabei gewonnen: Begreifen die Staaten der Europäischen Union, dass wir das Flüchtlingsthema im gesamten Europa gemeinsam stemmen müssen?
Ich hoffe, sie begreifen es. Sie haben es jedenfalls in den Sitzungen in denen ich dabei war, nicht gezeigt. Man hat keine Anstalten gemacht, tatsächlich verlässlich und dauerhaft Verpflichtung zu übernehmen. Ich finde das im höchsten Maße kritikwürdig. Das ist überhaupt nicht zu akzeptieren. Man hat da Runde um Runde gedreht – und jede Runde, die gedreht wurde, bedeutet: Man hat außerhalb von Deutschland einige Wochen Zeit geschunden und uns allein gelassen mit dem Problem.
Sie sind Innenminister und damit für die innere Sicherheit verantwortlich. Derzeit kommen Hunderttausende von Asylbewerbern über die deutsche Grenze, ohne registriert zu werden. Können Sie noch ruhig schlafen?
Das lässt uns nicht ruhig schlafen. Das ist auch eines der Themen, die wir auf der Ebene der Innenminister der Länder permanent besprechen. Mit den Bundessicherheitsbehörden, mit dem Bundeskriminalamt, mit dem Bundesamt für Verfassungsschutz stehen wir hier gemeinsam in der Verantwortung. Wir schauen da sehr genau hin und hoffen, dass wir diese Situation im Laufe dieses Jahres deutlich besser in den Griff bekommen. Derzeit ist es so: Flüchtlinge stehen morgens vor der Tür, werden in einer Erstaufnahmeeinrichtung aufgenommen. Dann stellen die Flüchtlinge fest: Sie sind jetzt zum Beispiel in Trier – und die Verwandtschaft lebt in Bremen. Am nächsten Tag sind sie dann in Trier wieder weg. Diese Situation ist für Sicherheitsbehörden fürchterlich. Wir arbeiten mit Hochdruck daran, bei der Registrierung schneller zu werden.
Und bis dahin ist die Sicherheitslage instabil?
Nein. Es gibt in Rheinland Pfalz überhaupt keinen Ausreißer in Sachen Kriminalität in den Erstaufnahmeeinrichtungen und ringsherum. In Hermeskeil hat man mir die Kriminalitätsakte gezeigt – das war ein dünnes Papier. Die Polizei ist nach wie zuvor sehr zufrieden. Damit Kriminalität dort auch in Zukunft keine Schwerpunkte bildet, schauen wir aber auch sehr genau hin. Wir haben die Inspektionen rundum die Erstaufnahmestellen deutlich verstärkt. Wir haben „Ermittlungsgruppen Migration“ bei den Erstaufnahmeeinrichtungen gebildet, um vor Ort den Überblick zu behalten.
Von Rheinland-Pfalz nochmal zurück an die deutsche Grenze zu Österreich: Sind auch Sie für den Bau von Zäunen, um den Zustrom in unser Land wieder regulieren zu können?
Innenminister Roger Lewentz
Zäune haben in solchen Situationen noch nie geholfen. Es ist dringend notwendig, dass wir den Flüchtlingslagern rund um Syrien im Libanon, in Jordanien und der Türkei Geld zur Verfügung stellen. Dort sind noch Millionen Menschen, die offenkundig lieber in der Nähe ihrer Heimat bleiben, wenn in diesen Lagern einigermaßen ordentliche Lebensverhältnisse herrschen. Es ist nicht zu akzeptieren, dass das UNO-Flüchtlingshilfswerk UNHCR als Betreiber dieser Lager auch von der europäischen Kommission die Gelder gestrichen bekommen hat. Jetzt wird die Hilfe wieder hochgefahren – was sehr vernünftig ist, denn dann können die Menschen zunächst einmal in der Nähe ihrer Heimat bleiben. Wir müssen zudem eine Regelung mit der Türkei finden. Da wird auf Bundesebene mit der Bundeskanzlerin verhandelt – und das ist absolut richtig so. Drittens führt überhaupt nichts daran vorbei: Die Bundesregierung muss auf der Europäischen Ebene durchsetzen, dass alle EU-Länder gemäß ihrer Leistungsfähigkeit Flüchtlinge aufnehmen. Dann hätten wir hier schon eine deutlich entspanntere Situation.
Was halten Sie von den viel diskutierten Transitzonen auf bayerischem Boden nach dem Muster der Flughäfen?
Ich kann mir nicht vorstellen, wie das gehen soll. Jeden Tag kommen derzeit rund 10.000 neue Flüchtlinge zu uns. Der Bundesinnenminister sagt, es brauche auch in einer Transitzone einige Tage, um einen dieser Fälle zu bearbeiten. Das heißt: Wir bräuchten entlang der bayerisch-österreichischen Grenze bald viele Lager mit mehreren 10.000 Plätzen. Diese Lager kann und will ich mir kaum vorstellen. Der Vorschlag mit den Transitzonen ist nicht durchdacht. Interessant in diesem Zusammenhang: Der Bundesinnenminister hatte uns vor Wochen schon zugesagt, dass der Bund selbst Erstaufnahmekapazitäten von bis zu 40.000 Plätzen schaffen will. Davon spüren wir noch gar nichts.
Sie haben eben bestätigt, dass sich viele Flüchtlinge faktisch unkontrolliert im Bundesgebiet bewegen. Sie gehen dorthin, wo sie Verwandte haben. Das nackte Chaos – oder ein von der Politik insgeheim gebilligter Zustand, der dazu beiträgt, dass sich die bundesweite Verteilung der Flüchtlinge gleichsam von selbst regelt?
Es ist eine schwierige Situation, wenn man sich die Zahlen anschaut. Als diese Freizügigkeitsregelung auch auf der europäischen Ebene verabredet wurde, hat man mit einem solchen Flüchtlingsstrom nicht gerechnet. In Deutschland regelt sich das derzeit tatsächlich ein Stück so, dass sich die Flüchtlinge dorthin orientieren, wo sie Angehörige haben. Wir reagieren aber auch. Zu Beginn des Jahres hatten wir weniger als 2000 Plätze in Erstaufnahmeeinrichtungen des Landes. Jetzt entwickeln wir uns in Richtung 14.000 Plätze, in absehbarer Zeit werden wir 15.000 erreichen und angestrebt werden 20.000 Plätze für die Erstaufnahme. Da sieht man, wie groß die Leistung des Landes ist. Das ist auch für die Kommunen eine gute Entlastung – auch vor dem Hintergrund, dass wir den Weg der Beschlagnahme von Privateigentum nicht gehen wollen. Andere Bundesländer machen das.
Bayern hat 2014 1007 abgelehnte Asylbewerber abgeschoben, in Rheinland Pfalz gab es im gleichen Zeitraum gerade mal 306 Abschiebungen. Offenbar hemmt rot-grünes Gutmenschentum die Umsetzung geltenden Rechts.
Laut einer Statistik des Bundesinnenministers haben die Bundesländer bei der der Frage „Wie kriege ich die Menschen, die nicht hier bleiben können, dazu zu bewegt, wieder nach Hause zu gehen?“ im Verhältnis zu ihren Einwohnerzahlen etwa die gleichen Erfolgsquoten. Wir stehen nicht anders da als Bayern, wir haben nur einen Weg gewählt, den ich für viel klüger halte: Wir haben ein freiwilliges Ausreisesystem mit einem Anreizprogramm. Das bedeutet: Wir überzeugen Menschen, dass sie nicht hierbleiben können, wir geben ihnen einige Hundert Euro Starthilfe – und sie reisen freiwillig aus. Wir erreichen damit Zahlen, die an anderer Stelle mit ganz schwierigen Verwaltungsverfahren und Polizeieinsätzen langwierig durchgesetzt werden. Die Landräte in Rheinland-Pfalz gehen lieber diesen Weg mit uns, als über Abschiebeverfahren in sehr komplizierten Einzelfällen vorgehen zu müssen.
Sie sind 2015 Vorsitzender der bundesweiten Innenministerkonferenz. Anders als ihre Kollegen aber sind Sie in Rheinland Pfalz für das Flüchtlings-Thema gar nicht zuständig. Das Integrationsministerium zeichnet hier verantwortlich. Die Opposition spricht bereits von Kompetenz-Chaos in Mainz.
Die Zusammenarbeit im Land funktioniert gut. Wir haben eine enge Absprache mit den Kollegen im Integrationsministerium, ich auch persönlich mit Integrationsministerin Irene Alt. Wir haben in der Landesregierung entschieden, dass diese große Aufgabe auf mehrere Schultern verteilt wird. Das Justizministerium ist mit dabei, das Integrationsministerium natürlich, die ADD und das Innenministerium insbesondere auch über die Entwicklungsagentur. Wir haben unsere Kräfte gebündelt, um diese Herausforderung bewältigen zu können. Noch mal: 500 bis 800 Menschen stehen jeden Tag vor unserer Tür und müssen menschenwürdig untergebracht werden. Wir hatten bereits den ersten Schnee. Wir spüren, dass die Herausforderungen nicht weniger, sondern schwieriger werden. Deshalb müssen wir alle zusammen arbeiten.
Der Bundestag hat beschlossen, auch Albanien, Montenegro und Kosovo zu sicheren Herkunftsländern zu erklären – mit entsprechend niedrigen Chancen für deren Staatsbürger, hier erfolgreich Asyl beantragen zu können. Wie schwer war es, die Grünen in der Mainzer Landesregierung dazu zu bewegen, einem rheinland-pfälzischen Ja im Bundesrat zuzustimmen?
Dass die Grünen sich diese Zustimmung nicht einfach gemacht haben, konnte man ja beobachten. Die Grünen haben ihre Gründe genannt. Am Schluss haben sie gesagt: Das Asylpaket insgesamt verbessert die Flüchtlingssituationen in Deutschland. Deshalb haben sie dem Paket zugestimmt – also auch der Drittstaatenfrage. Im Übrigen haben uns auch die Regierungen dieser Länder selbst gebeten, diese Entscheidung zu treffen, weil sie ausbluten. Auch dort muss es weiter gehen. Ich glaube: Das Paket, dem der Bundesrat zugestimmt hat, war rundum verantwortungsvoll.
Kanzlerin Merkel ist am Wochenende zum türkischen Präsidenten Erdogan gereist – kurz vor den Wahlen dort. Ist Merkel jetzt Erdogans beste Wahlhelferin – oder war das alternativloser Pragmatismus?
Ich glaube: das zweite gilt. Die Reduzierung der Flüchtlingsströme geht nur mit der Türkei. Dann muss man aber auch mit der Türkei reden, muss seinen Einfluss geltend machen. Die Türken haben schon bisher eine große Last getragen. 2,5 Millionen Syrer halten sich in der Türkei auf. Da muss man die Türkei unterstützen. Es muss uns sehr daran gelegen sein, diese Menschen zu unterstützen, dort in der Nähe ihrer alten Heimat bleiben und sich nicht auch noch auf den Weg zu machen.
Aber die neue Nähe zum Autokraten Erdogan kann einem Sozialdemokraten wie Ihnen nicht eben leicht fallen.
Mir gefällt die türkische Regierung nicht, aber das Gespräch mit dem türkischen Staat muss sein. In der Politik muss man miteinander reden, um Verhältnisse zu verändern. Die Türkei hat sich ihre Regierung selbst gewählt – und mit der muss man reden.
Die Linie etwa von Linken, Grünen und CSU in der Flüchtlingsfrage wirkt jeweils klarer als die der SPD. Wie zufrieden sind Sie mit dem öffentlich wahrnehmbaren Kurs der SPD in diesem Punkt?
Wir haben neun SPD-Innenminister, die eine klare Handschrift in den Ländern fahren. Damit bin ich sehr zufrieden. Unabhängig davon: Es ist eine schwierige Zeit. Wenn man sagt „Alle Flüchtlinge sollen ohne jede Begrenzung kommen können“ oder „Keiner soll mehr kommen“, dann sind das einfach zu begründende Extrempositionen. Wir in der Regierung haben eine Verantwortung, die komplexer ist. Und wir haben auch eine Haltung, die lautet: „Wenn Menschen zu uns kommen, müssen wir sie menschenwürdig unterbringen.“ Diese Haltung ist alternativlos für mich. Insofern bin ich mit unserer Grundlinie zufrieden.
Wird das Flüchtlingsthema die Landtagswahl in Rheinland Pfalz entscheiden?
Ob diese Thematik die Wahl im März 2016 entscheiden wird, sei dahingestellt. Sie wird sie natürlich sehr beeinflussen. Die Menschen reden momentan kaum noch über etwas anderes. Darauf müssen wir uns alle einstellen. Ich hoffe, dass wir es trotzdem schaffen, dass rechtsextremes Gedankengut und rechtsextreme Parteien keine Rollen spielen. Dafür müssen wir heftig arbeiten. Für uns bedeutet das: Wir müssen zeigen, dass wir als Regierung mit einer solchen Herausforderung umgehen können, dass wir handlungsfähig sind. Im Augenblick stellen wir das Tag für Tag unter den Beweis.
Wird dieses Thema die Zusammensetzung des Landtags in Rheinland Pfalz verändern?
Dafür ist es jetzt vielleicht noch einen Tick zu früh. Erste Umfragen sagen ja. Im Moment sieht es nicht nach einem Landtag mit drei Fraktionen aus. Es kann aber im Augenblick keiner sagen, wie in fünf Monaten die politische Landschaft in Deutschland aussieht. Wir müssen sehr daran arbeiten, dass sie stabil bleibt. Wir müssen beweisen, dass Regierungen handlungsfähig sind. In Rheinland-Pfalz sind wir es. Anfang des Jahres wird man einen klareren Blick haben. Aber natürlich geht eine solche Riesenherausforderung für unsere Gesellschaft nicht auch an der Frage vorbei „Wie beurteile ich Politik?“.
Was halten Sie vor diesem Kontext davon, wenn das Öffentlich-rechtliche Fernsehen, wie jetzt bei Jauch geschehen, einen AFD-Vertreter ungebremst die Gelegenheit gibt, sich zur besten Sendezeit ausbreiten zu können?
Ich habe diese Talkshow auch gesehen. Ich hätte darauf verzichtet. Aber natürlich muss man auch zeigen, dass man mit Menschen dieser Gesinnung diskutieren kann und dabei in der Lage ist, diese Diskussion zu beherrschen.
Das war bei Günter Jauch nicht gerade der Fall.
Nein. Man hat den AfD-Politiker sehr lange reden lassen, man hat ihn auch dazwischenreden und Parolen verkünden lassen, die im öffentlich rechtlichen Fernsehen nichts verloren haben.
Das Interview führte Chefredakteur Christian Lindner