Erschwerend kommt hinzu, dass viele der Traumatisierten jeden Tag mit der Zerstörung ihrer Heimat konfrontiert werden. „Normalerweise muss man erst das Umfeld stabilisieren, bevor eine Traumatherapie beginnen kann. Das ist hier gar nicht möglich. Der Moment, an dem die traumatischen Lebensverhältnisse beseitigt sein werden, ist noch lange nicht erreicht“, sagt die Chefärztin der ebenfalls schwer zerstörten Dr. von Ehrenwall'schen Klinik in Ahrweiler.
Im Interview mit unserer Zeitung blickt Scharping auf die ersten Monate des Traumahilfezentrums zurück. Die vielen Gespräche, die Mitarbeiter mit Betroffenen führen, sind wie ein Seismograf der Seelenlage im Ahrtal. „Bei den Gesprächen zu Beginn unserer Arbeit ging es vor allem um Ängste, die Angst ums Überleben oder vor Regen. Jetzt erleben wir immer mehr Verbitterung und Resignation. Die Angst wabert aber weiter in vielen.“
Seit mehr als einem halben Jahr kümmern Sie und Ihre Kollegen sich um die Traumatisierten im Ahrtal. Welche Geschichten von Betroffenen haben Sie besonders berührt?
Viele. Da ist ein Ehepaar, das in der Flutnacht alles verloren hat, aber dann trotzdem geholfen hat. Der Mann hat sich im Matsch verletzt, die Wunde hat sich infiziert, und er ist letztlich als Folge des Helfens gestorben. Dann gab es Familien, die in der Flutnacht vor den Wassermassen auf den Speicher geflohen sind. Dann musste entschieden werden, wer am höchsten auf die Möbel klettern und als Letztes sterben darf: die Kinder oder die Erwachsenen? Sie haben letztlich alle überlebt, aber das wussten sie natürlich nicht. Das sind furchtbare Geschichten, die einem das Herz brechen.
Sie selbst waren in der Flutnacht nicht im Ahrtal. Spüren Sie bis heute einen Unterschied zu Kollegen und Patienten, die im Ahrtal waren?
Ja. Das macht einen großen Unterschied, weil die einen das Trauma hautnah miterlebt haben, während die anderen wie ich später ohne das Gefühl einer direkten Lebensbedrohung dorthin gekommen sind. Bei vielen, die das direkt erlebt haben, befindet sich das Gehirn in einem Schockmodus, der eine normale Verarbeitung der Situation und die Abspeicherung des Erlebten im Großhirn verhindert. Wer nicht im Ahrtal war, kann die Erfahrung leichter verarbeiten, weil die Gedächtnisfunktion im Großhirn normal arbeiten kann.
Was passiert genau in den Köpfen von Traumatisierten?
Traumatisierte geraten in einen Notfallmodus, bei dem sich das Großhirn ausklinkt und ganz viele Stresshormone wie Kortison, Adrenalin oder Noradrenalin ausgeschüttet werden. Dadurch ist man wie überdreht. Man spürt Schmerzen, Angst und Sorgen nicht mehr. Als Reaktion auf ein Trauma kämpft, flieht oder erstarrt der Betroffene. Das halten die Betroffenen aber nur für eine gewisse Zeit durch. Irgendwann sind so viele Stresshormone ausgeschüttet, dass man zusammenbricht. Und die normale Verarbeitung des Erlebten funktioniert „ohne das Großhirn“ nicht ausreichend. Deshalb überwältigen einen die Erinnerungen an die Flut.Sie entkoppeln sich von der Realität. Betroffene sind in einem permanenten, sehr anstrengenden Angst- und Aufmerksamkeitsmodus. Man schläft schlecht, ist extrem reizbar und dünnhäutig. Viele versuchen, sich zu schützen, indem sie eine Auseinandersetzung mit dem eigentlichen Erlebten vermeiden.
Viele wollen nicht darüber reden oder verlassen das Haus nicht, wenn es regnet. Andere helfen und tun unheimlich viel, um sich mit dem Trauma nicht auseinandersetzen zu müssen. Andere wiederum erstarren emotional. Sie fallen oft gar nicht auf. Und es ist schwer für uns, diese Traumatisierten zu erreichen, weil die seelischen Probleme weniger offensichtlich sind.
Die Flut ist jetzt ein Jahr her – doch vorbei ist sie noch lange nicht. Die psychische Ausnahmesituation dauert an. Doch wie verarbeiten Menschen im Ahrtal das kollektive Trauma? Und wie können wir alle uns jetzt schon wappnen vor Bedrohungen für die mentale Gesundheit, die mit der Klimakrise ...Podcast RZInside zu Ahrtal-Trauma und Klima-Angst: Wie kommen wir damit klar?
Hat Sie selbst manchmal ein schlechtes Gewissen geplagt?
Ja. Ich konnte deshalb gar nicht mehr aufhören zu arbeiten, weil ich das Gefühl hatte, dass ich es so viel besser erwischt habe als viele andere und deshalb jetzt alles geben muss. Ich hatte das Gefühl, mich nicht mehr erholen zu dürfen. Und ich weiß, dass das bei ganz vielen Menschen ähnlich gewesen ist, die nicht so schwer betroffen waren.
Wie sind Sie damit umgegangen?
Das Dankbare an meinem Beruf ist, dass ich von dieser sogenannten Überlebensschuld und den Folgen weiß. Das ging vielen Kollegen ähnlich. Wenn man weiß, wie dieses Gefühl entsteht, ist es leichter, damit einen Umgang zu finden. Wir haben im Krisenstab unserer Klinik also dafür gesorgt, dass wir uns freie Tage nehmen. Um Weihnachten herum haben wir uns gegenseitig zu einer Urlaubswoche „gezwungen“.
Was steckt hinter dieser Überlebensschuld?
Allen Menschen fällt es extrem schwer, Ohnmacht auszuhalten. Sich schuldig zu fühlen, ist immer noch besser, als ohnmächtig zu sein. Und in unserer moralischen Entwicklung lernen wir, uns für andere verantwortlich zu fühlen. Wir freuen uns nicht einfach, wenn es uns gut geht, anderen aber schlecht.
Hat das auch dazu geführt, dass Menschen über ihre Kräfte hinaus geholfen haben?
Ja. Helfen ist ein Ausweg aus der Angst, dass einem selbst etwas Ähnliches zustoßen und man selbst ohnmächtig werden könnte. Ich erlebe bei vielen Ehrenamtlichen bis heute Menschen, die ohne Verpflichtung bis in den Burn-out hinein helfen, ohne jemals Urlaub zu machen. Es gibt auch jene, die ihr unversehrtes Haus in einer anderen Region verkauft haben und jetzt in einem Tiny House im Ahrtal wohnen und helfen. Und es gibt viele Patienten, die erst jetzt zu uns kommen und meinen, dass sie gar kein Anrecht auf eine Therapie haben, weil sie nur ihr Haus, aber keine Angehörigen verloren haben. Ihnen erklären wir, dass auch ihr Schicksal sehr schlimm ist und dass man nicht zwischen verschieden schweren Traumatisierungsgraden unterscheiden sollte. Jedem Betroffenen steht Hilfe zu.
Spielt Schuld auch beim Helfersyndrom eine Rolle?
Auch, aber nicht nur. Es geht auch um das Thema Selbstwert: Wer hilft, der wird gebraucht, fühlt sich wichtig und zugehörig. Helfen stiftet Sinn im Leben. Bei einem Trauma kann man Opfer, Täter oder Retter sein. Wir wollen alle lieber Retter sein. Hinzu kommt die enorme Dankbarkeit und Anerkennung, die viele gerade am Anfang erhalten haben. Pathologisch wird dies, wenn das Helfen zur Sucht wird, es also nicht möglich ist, ohne Leiden damit aufzuhören, und man andere wichtige Dinge des eigenen Lebens vernachlässigt. Etliche Helfer kamen zu uns, weil sie unter einem Burn-out litten. Ich gehe aber davon aus, dass dieses Helfersyndrom bei vielen unentdeckt geblieben ist.
Haben sich traumatisierte Mitarbeiter von Leitstellen bei Ihnen im Zentrum Hilfe geholt?
Ja. Sie haben nahezu das Gleiche erlebt wie die Menschen im Ahrtal, zwar nicht mit ihren Augen, aber mit ihren Ohren: Sie haben die Schreie am Telefon gehört. Deshalb sind viele von ihnen auch akut traumatisiert, weil sie mitbekommen haben, wie andere Menschen in Lebensgefahr waren, ohne dass sie ihnen helfen konnten. Viele grübeln bis heute in Endlosschleifen, was sie hätten besser tun können, sind sehr reizbar, erschöpft, frustriert, leiden unter Schlafstörungen oder haben Angst, wieder zur Arbeit zu gehen.
“Bei jedem Starkregenereignis oder schlechtem Wetterbericht geraten viele im Ahrtal in Panik."
Dr. Katharina Scharping, Leiterin des Traumahilfezentrums im Ahrtal
Welche Rolle spielen Wut auf Verantwortliche und das Thema Schuld?
Eine sehr wichtige. Das hat die Politik auch erkannt und wohl auch deshalb einen Untersuchungsausschuss eingerichtet. Allerdings ist es in diesem Fall schwieriger, einen Täter zu finden, als etwa bei einem Banküberfall. Kompliziert wird es dadurch, dass wir in gewisser Weise alle Täter sind, weil die Flutkatastrophe Folge des Klimawandels ist. Das Thema Schuld ist vielen sehr wichtig. Viele sind wütend. Die Wut trifft derzeit vor allem Kommunalpolitiker und Gutachter von Versicherungen. Bei ihnen lädt sich der Frust über die Bürokratie und die stockenden Hilfezahlungen ab. Die Gefahr ist aber, dass daraus Verbitterung entsteht, weil es nicht den einen Schuldigen gibt. Für die Genesung ist es wichtiger, dass man mit dem Trauma abschließen und eine Form der Versöhnung finden kann. Doch aktuell überwiegt Frust.
Das heißt?
Bei den Gesprächen zu Beginn unserer Arbeit im Traumahilfezentrum ging es vor allem um Ängste, die Angst ums Überleben oder vor Regen. Jetzt erleben wir immer mehr Verbitterung und Resignation. Die Angst wabert aber weiter in vielen. Bei jedem Starkregenereignis oder schlechtem Wetterbericht geraten viele im Ahrtal in Panik. Sie kaufen dann Sandsäcke, schlafen schlecht. Sie sagen Gesprächstermine bei uns ab, weil sie sich nicht mehr aus dem Haus trauen. Stattdessen rufen mich dann Journalisten an, um zu erfahren, wie die Menschen im Ahrtal mit dem Wetterbericht umgehen. Das ist bizarr.
Das mediale Interesse ist weiter groß. Dennoch haben viele im Ahrtal die Sorge, von der Politik vergessen zu werden. Spüren Sie das?
Ja. Als der Ukraine-Krieg begann, war die Sorge sehr groß, dass die Aufmerksamkeit jetzt zu den Flüchtlingen geht und das Ahrtal verloren ist. Was das mediale Interesse angeht, empfinden das viele Menschen im Ahrtal mittlerweile oft als aufdringlich, invasiv und anstrengend. Und viele erleben, dass die Medien berichten, zugleich aber Hilfsgeld nicht fließt. Das schürt eher die Wut, auch auf Medien.
Wie schwer wiegt es, dass die Wartezeit auf einen Therapieplatz mittlerweile viele Monate beträgt?
Schwer. Immerhin hat die Kassenärztliche Vereinigung sieben Therapeuten mit Teilzeitstellen eine Niederlassung ermöglicht, um Flutopfer zu behandeln. Es handelt sich um 2,75 volle Sitze. Es gibt also faktisch drei neue Therapeuten. Wenn jeder von ihnen vielleicht 25 Menschen pro Woche behandelt, dann sind etwa 80 bis 100 zusätzliche Betroffene dadurch versorgt. Angesichts von 15.000 potenziell durch die Flut schwer Traumatisierten ist das aber nur ein Tropfen auf dem heißen Stein. Und es gibt zwar in der Kreisverwaltung seit Dezember eine Koordinierungsstelle, die einen Überblick über die Versorgungsangebote und -bedarfe zusammenstellen soll. Aber auch nach einem halben Jahr liegt diese Übersicht nicht vor.
Wie sollte am 14. Juli der Flutkatastrophe gedacht werden?
Im Ahrtal prasselt schon jetzt ein Dauertrigger auf die Menschen ein. Die Erinnerung an die Flutnacht ist allgegenwärtig. Für die meisten ist der Jahrestag eher eine Belastung, an dem sie mit ihrem Trauma konfrontiert werden. Viele fahren daher lieber weg oder bleiben zu Hause. Es gibt viele Angebote zum Jahrestag, die aber bei Betroffenen auf wenig Interesse stoßen. Wir als Traumahilfezentrum stellen uns eher darauf ein, dass Betroffene spontan Hilfe brauchen werden.
Was ist das Besondere an der Traumatisierung im Ahrtal?
Es gibt im Ahrtal eine lange anhaltende Traumatisierung einer großen Zahl an Menschen mit gleichzeitig traumatisierten Helfern. Das ist in Deutschland nach 1945 bislang einzigartig. Normalerweise muss man erst das Umfeld stabilisieren, bevor eine Traumatherapie beginnen kann. Das ist hier gar nicht möglich. Der Moment, an dem die traumatischen Lebensverhältnisse beseitigt sein werden, ist noch lange nicht erreicht.
Wie sollte sich unsere Gesellschaft psychologisch für das Zeitalter des Klimawandels und der Extremwetterereignisse wappnen?
Wir müssen sorgsamer miteinander umgehen und ein Bewusstsein für Traumatisierung und psychische Erkrankungen entwickeln. Sie dürfen nicht mehr stigmatisiert werden. Und es muss der Gesellschaft etwas wert sein, das Hilfssystem auskömmlich zu finanzieren. Bislang ist die Bereitschaft dazu noch nicht so stark ausgeprägt. Die Erfahrung im Ahrtal könnte da für einen Sinneswandel sorgen.
Das Gespräch führte Christian Kunst
Das Traumahilfezentrum im Ahrtal hat mehr als 1000 Traumatisierten geholfen
Das Traumahilfezentrum in Grafschaft-Lantershofen steht vor einer Mammutaufgabe. Schon jetzt gibt es lange Wartezeiten auf Einzel- und Gruppentermine. Das geht aus dem Tätigkeitsbericht der Leiterin des Zentrums, Dr. Katharina Scharping, an die Landesregierung von Mitte Juni hervor, der unserer Zeitung vorliegt. „Für Einzel- und Gruppenberatungen bestehen trotz der Limitierung des Angebots auf fünf Beratungen pro Person weiterhin Wartezeiten von mehr als vier Wochen“, heißt es darin. Und weiter: „In der Zeit zwischen dem 1. Dezember 2021 und dem 31. Mai 2022 haben 863 Einzelberatungen stattgefunden. 41 Gruppenzyklen mit je fünf Terminen und sieben Teilnehmern wurden seit der Eröffnung durchgeführt. Zusammengefasst (Fortbildungen, Helfertreff, Fallbesprechungen, Supervisionen) fanden 44 Angebote für Helfer statt.“ Insgesamt hat das Zentrum also bereits mehr als 1000 Menschen beraten.
Zu den weiteren Angeboten zählt unter anderem auch ein Beratungsbus der Kreisverwaltung Ahrweiler, in dem eine Mitarbeiterin zwölfmal pro Monat Sprechstunden anbietet. „Die soziotherapeutischen Beratungen werden weiterhin stark nachgefragt und belaufen sich auf rund 57 Termine im Monat. Vergleichbar hoch ist auch die Nachfrage für psychologisch-ärztliche Beratungen sowohl für Kinder und Jugendliche und Familien (durchschnittlich 15 Termine im Monat) und Erwachsene (durchschnittlich 66 Termine im Monat). Bei allen Beratungsangeboten ist die Nachfrage so groß, dass Wartezeiten von vier bis sechs Wochen bestehen. Neben den Beratungen in den Räumlichkeiten des Zentrums wird auch aufsuchend und telefonisch beraten. Die Informationsgruppe für Flutbetroffene findet weiter großen Anklang, die Wartezeit beträgt rund zwei Monate“, heißt es im Bericht.
Immer wieder ist darin von personellen Limitierungen des Zentrums die Rede und von einer Unterversorgung bei Therapieplätzen. „Eine besondere Unterversorgung scheint für ältere Bürger mit eingeschränkter Mobilität, psychisch und/oder körperlich multimorbide Menschen sowie die besonders betroffenen geistig behinderten Bewohner der von der Flut zerstörten Lebenshilfe in Sinzig zu bestehen. Hier sind niederschwellige und vor allem auch aufsuchende Angebote erforderlich.“ ck