Die Lage in Ernst an der Mosel ist ernst. Da sind sich der ortsansässige Winzer Dirk Reitz und sein Vertriebskompagnon Gernot Kallweit einig. Warum? Das Preisniveau bei Wein: eigentlich zu niedrig, um Steillagen zu kultivieren; der einst verlässliche Kundenstamm aus Touristen: weggebrochen; die Kaufkraft der Kunden und potenziellen Neukunden: sinkend. Doch die beiden glauben, einen Ausweg aus dieser ernsten Lage gefunden zu haben: im Anbau historischer Rebsorten.
Mit Reitz und Kallweit haben ein Winzermeister und der Inhaber einer Designagentur zusammengefunden. „Er ist der Fachmann, der Handwerker im Weingut – ich bin Designer und habe 30 Jahre lang Weinmarketing gemacht“, sagt Gernot Kallweit. Aus ihrem ersten gemeinsamen Projekt, einer Marke für Cuvées des Winzers, erwuchs eine weitere Zusammenarbeit. Aus dem Weinfachwerk Reitz wurde die Weinmanufaktur Reitz. Die beiden besuchten gemeinsam Weinproben und andere Winzer – auf der Suche nach neuen Ideen, nach Innovation.
Denn wie gesagt, die Lage ist ernst in Ernst. „Die Kombination aus Gästezimmer und Weinausschank, das ist das klassische Modell bei uns an der Mosel, um Endkunden zu generieren“, erklärt Dirk Reitz mit Blick auf die Region zwischen Cochem und Zell. Wer früher zu Gast war, wurde Stammkunde bei seinem Winzer. Doch das sei schon seit Längerem Schnee von gestern. Statt sich den Kofferraum beim Stammwinzer vollzuladen, werde mal hier, mal da gekauft. Auch Verkäufe größerer Mengen gehörten eher der Vergangenheit an. „Kunden heutzutage sind wechselfreudiger“, sagt Reitz. Sie kämen ständig mit Wein in Berührung: über Reisen, Werbung, den Online-Markt. Die Abhängigkeit vom Tourismus muss also weg, eine zusätzliche Kundenklientel her.
Seit Corona habe eine Krise nach der anderen die Kaufkraft der Kunden schwinden lassen. Doch der Preis von 6,50 Euro, der sich für eine Flasche Riesling an der Mosel etabliert habe – auch für Wein aus der Steillage -, sei einfach zu niedrig, so Reitz. Für den Aufwand im Berg sei das ein zu geringer Preis. Dieser werde jedoch oftmals beibehalten, aus Furcht, Kundschaft zu verlieren. Es müsse eine Preispyramide von Flach- zu Steillagen geschaffen werden. „Das gibt es derzeit nicht genügend.“ Das Preisniveau an der Mosel müsse insgesamt angehoben werden. „Das ist auch die Rettung der Steillagen“, glaubt Reitz. In seinem Webshop ist die Flasche Riesling ab 9 Euro zu haben. Ein neues, einzigartiges Angebot könnte bei der Anpassung der Preise behilflich sein.
Aber, was wir da getrunken haben, das war ein anderer Planet.
Gernot Kallweit über die verkosteten Weine aus historischen Rebsorten
Nun kommt die Entdeckung ins Spiel, die Dirk Reitz und Gernot Kallweit im Winter 2020 in einem rheinhessischen Weinkeller gemacht haben: Wein aus historischen, zwischenzeitlich vergessenen oder als ausgestorben geglaubten Rebsorten. Probiert haben sie ihn im Keller von Ulrich Martin in Gundheim im Kreis Alzey-Worms. Er habe schon viele Weine in seinem Leben verkostet, so Kallweit, auch deutsche Spitzenweine. „Aber, was wir da getrunken haben, das war ein anderer Planet“, betont er.
Auch Dirk Reitz ist begeistert. Natürlich habe jede Rebsorte ihren eigenen Geschmack. „Aber hier war nicht nur der Geschmack anders, sondern die Dichte des Weins“, erklärt der Winzer. „Die sind alle so dicht, wie ein dicker Riesling.“ Und es gebe noch Steigerungspotenzial, da die Trauben der damals verkosteten Weine lediglich in Nebenlagen gereift seien.
Rebschule Martin vermehrt die alten Sorten
Ihr Gastgeber Ulrich Martin bewirtschaftet nicht nur um die zehn Hektar Weinberge, sondern betreibt auch eine Rebschule in Gundheim. Seit zwölf Jahren befasst er sich dort mit der Vermehrung historischer Rebsorten – in Kooperation mit dem Rebsortenforscher Andreas Jung. Normalerweise würden die Reben ein Jahr im Voraus bestellt – doch wie es der Zufall wollte, hatte Martin noch Reben der historischen Weißweinsorte Gelber Kleinberger im Angebot. Im Frühjahr 2021 pflanzt Dirk Reitz die ersten Reben der Sorte.
Doch was hat es mit diesen alten Sorten genau auf sich? In den vergangenen 200 Jahren sind Hunderte von Rebsorten von der Bildfläche verschwunden, erzählt Rebveredler Ulrich Martin. Dafür gebe es verschiedene Gründe – gesetzliche Vorgaben zum Beispiel, die Reblausplage oder die Umstellung von Hand- auf Maschinenarbeit im Weinberg, wodurch Weinberge gerodet und neu bestockt wurden. Doch nicht all diese Sorten sind tatsächlich ausgestorben, manche haben überlebt, wachsen an einer Hauswand empor, im Gebüsch oder in einem alten Weinberg.
Wir können sie nur erhalten, wenn sie draußen im Weinberg kultiviert werden.
Rebschulinhaber Ulrich Martin über die historischen Rebsorten
Und so kam es, dass Martins Projektpartner Andreas Jung „eine Fülle an Rebsorten entdeckt hat, die bei uns mal heimisch waren“, erzählt Ulrich Martin unserer Zeitung. Hinter der Bestimmung der Rebsorten durch Jung „steckt tiefe Recherche“, betont Martin. Während sein Partner als Rebsortenforscher und Geobotaniker die Sorten und deren Geschichte erforscht, vermehrt Martin sie in seiner Rebschule. Dort könne er inzwischen auf 30 bis 40 der historischen Rebsorten zurückgreifen.
Zwischen 10 und 15 seien wieder auf dem Markt und würden angebaut. Ziel sei es, die wiederentdeckten Sorten zu erhalten. Aber: „Wir können sie nur erhalten, wenn sie draußen im Weinberg kultiviert werden“, betont Martin. „Wenn der letzte Rebstock verschwindet, verschwindet die Rebsorte.“ Der Anbau der historischen Rebsorten müsse sich also durch den Wein aus ihren Trauben finanzieren. Daher möchte Martin die Reben über seine Rebschule an die Winzerinnen und Winzer bringen.
Wiederentdeckte Sorten sind Nische auf dem Weinmarkt
Laut Martin haben etwa 50 bis 60 Weingüter wieder historische Sorten im Anbau – größtenteils in Deutschland, aber auch in Österreich, Belgien oder Dänemark. Auf dem Weinmarkt sind sie noch „tiefste Nische“, wie Martin sagt. Doch das Projekt werde inzwischen wahrgenommen, „weil jetzt die ersten Weine entstehen“. Der Projektname „Historische Rebsorten“ hat sich auch als Marke etabliert, unter der Martin die Weine aus den alten Sorten vertreibt.
Doch warum sollten Winzer den Anbau der alten Sorten wagen? Zum einen ließen die Weine ganz andere Geschmacksnuancen erkennen, die es so bei heute etablierten Sorten nicht gebe. Zum anderen hätten die historischen Rebsorten Vorteile im Anbau. „Diese Rebsorten sind klimaerprobt“, sagt Ulrich Martin. Die ältesten Sorten aus Jungs Funden seien vor 8000 Jahren entstanden. Durch die alten Sorten sei eine enorme genetische Bandbreite wiederentdeckt worden – ein Vorteil mit Blick auf den Klimawandel.
Das Klima habe sich auch in der Vergangenheit schon verändert. Daher hätten die Winzer auch in früheren Zeiten ihren Weinberg immer wieder den Gegebenheiten angepasst. „Nur so konnten sie überleben“, betont Martin. Sich aus Marketing-Gründen nur auf wenige Sorten zu konzentrieren, hält der Rebveredler für gefährlich. „Wir müssen breiter aufgestellt sein, dazu brauchen wir diese alten Sorten.“ Zum Teil seien sie nun wieder für Kreuzungen in der Züchtung im Einsatz. „Wenn man der Klimaveränderung trotzen will, braucht man breite genetische Vielfalt“, ist Martin überzeugt.
Gernot Kallweit sieht im Erhalt der alten Rebsorten einen Beitrag zu Klimaschutz und Artenvielfalt: „Alles, was die Natur hervorbringt, ist vielfältig – und wenn etwas divers ist, ist es stabil.“ Aus seiner Sicht wäre es daher auch erstrebenswert, die historischen Sorten irgendwann wieder im Mischsatz zu kultivieren, wie es einst der Fall war – also dass ein Weinberg mit verschiedenen Rebsorten bestockt ist, aus deren Trauben ein gemeinsamer Wein hergestellt wird. Doch zunächst, betont Ulrich Martin, müssten die Winzer die alten Sorten rein an- und ausbauen, um sie zu verstehen, um sich im Keller an sie heranzutasten.
Und so wirbt Gernot Kallweit bei Weinproben gern damit, dass sein Publikum erstmals in der Geschichte Gelben Kleinberger sortenrein trinken könne. Bisher seien die historischen Sorten den Teilnehmern noch unbekannt, „aber wenn sie sie probieren, sind sie völlig begeistert“, sagt Kallweit. Für die Verkostungen greift er bislang auf Wein aus Martins Beständen zurück. Doch für dieses Jahr hoffen Dirk Reitz und er auf genügend Menge, um den ersten eigenen Gelben Kleinberger in die Flasche zu bekommen. Bisher gibt es nur eine geringe Menge aus dem Vorjahr. In Zukunft soll Reitz' Sortiment durch die historischen Sorten Schwarzblauer Riesling und Weißer Traminer ergänzt werden, die er 2022 und in diesem Frühjahr gepflanzt hat.
Winzer will Sorten nicht gegeneinander ausspielen
Doch was Dirk Reitz nicht möchte: „Es soll keine Sorte gegen die andere ausgespielt werden.“ Er wünscht sich, dass an der Mosel etablierte Sorten wie Riesling und Elbling auch weiter erhalten bleiben. Was er und Kallweit aber sehr wohl möchten: der Krisenstimmung mit Innovation begegnen. Dazu gehört beispielsweise auch das Patenschaftsmodell für die historischen Rebsorten.
Für einen jährlichen Beitrag kann eine Patenschaft für einen der Rebstöcke übernommen werden. Dafür bekommen Paten ein Weinpaket, zu dem ab dem kommenden Jahr eine Flasche Gelber Kleinberger gehören soll – zudem gibt es Neuigkeiten aus dem Weinberg, ein Namensschild vor der Patenrebe und die Einladung zum jährlichen Patenschaftsfest. Das diesjährige findet am 29. Juni statt. Mehr als 30 Gäste aus der ganzen Republik werden erwartet, so Kallweit. Ein Fest, das die Menschen binden soll: an Ernst, die Mosel, den Wein aus historischen Rebsorten – und im besten Fall aneinander. „Die haben sich am Schluss in den Armen gelegen“, sagt Kallweit über das Fest im Vorjahr.
Wer mehr über die historischen Rebsorten erfahren will und am Patenschaftsfest am 29. Juni teilnehmen möchte, kann sich per E-Mail an die Weinmanufaktur Reitz wenden: info@weingut-reitz.com; weitere Informationen zum Projekt „Historische Rebsorten“ gibt es unter www.historische-rebsorten.de