Wenn Eltern wüssten, was sich manche Kinder heutzutage wie selbstverständlich auf dem Schulhof von Handy zu Handy schicken, würde sich wohl nicht wenigen von ihnen der Gedanke aufdrängen, dem Nachwuchs das Smartphone doch wieder abzunehmen. Kinderpornos, angeschaut von Kindern, Enthauptungsvideos und Clips von schlimmsten Tierquälereien auf den Speichern von Zehnjährigen – all das ist an rheinland-pfälzischen Schulen inzwischen trauriger Alltag, wie Christine Henn vom Weißen Ring unserer Zeitung im Gespräch berichtet.
Die 40-Jährige leitet in der Koblenzer Außenstelle der Opferschutzorganisation die Arbeitsgruppe „Prävention“ und bietet gemeinsam mit Kolleginnen und Kollegen regelmäßig Workshops an Schulen im Land an – zu den Gefahren von sozialen Medien und dem World Wide Web. Die jüngsten Schüler in den Klassen seien 10, die ältesten 14 Jahre, sagt die 40-Jährige. Und frage man in die Klassen hinein, wer schon einmal Opfer von Belästigung im Internet geworden ist, so schnellten meist eine ganze Menge Finger in die Höhe.
Was ist Cybergrooming?
Ganz häufig, sagt Henn, gehe es in den Gesprächen dann um sogenannte „dick pics“ („Penisbilder“), die den Kindern von Pädophilen ungefragt in Chaträumen für Kinder und Jugendliche zugeschickt worden waren. Eine Form von Cybergrooming könne dies darstellen. Henn erklärt den Fachbegriff so: „Wenn Erwachsene sich im Netz als Jüngere ausgeben, um sich an Kinder heranzumachen, um sexuellen Kontakt herzustellen.“
Die Expertin hat auch gleich ein Beispiel aus dem echten Leben parat. Vor einigen Jahren hatte sich ein 78-Jähriger in Rheinland-Pfalz in einer App für Kinder als 15-jähriger Junge ausgegeben und über Wochen und Monate ein Vertrauensverhältnis zu einem kleinen Mädchen aufgebaut. Irgendwann schickte dieses dem vermeintlichen Teenager Nacktbilder zu – doch der Täter flog am Ende auf. Der Weiße Ring betreute die Familie des Mädchens infolge bei rechtlichen Schritten gegen den 78-Jährigen.
So schockierend dieser Fall ist – es hätte noch viel schlimmer kommen können, wie Henn berichtet. Denn nicht selten gingen Täter nach Erhalt des ersten Nacktbildes dann dazu über, das Kind zu erpressen. Drohszenarien würden aufgebaut – nach dem Motto: „Schick mir besser weitere Bilder, denn du willst sicher nicht, dass ich deinen Eltern oder Mitschülern das erste Bild weiterleite.“
Und was ist Cybermobbing?
Digitale Gewalt kann laut Henn noch viele weitere Formen annehmen – etwa die von Cybermobbing. Den Terminus könnte man wohl mit „Hänselei im Netz“ recht treffend übersetzen. Das Gespräch mit Henn kommt in diesem Zuge auf die Erstellung von sogenannten Fake-Accounts: Sowohl Lehrer als auch Schüler würden immer wieder zu Opfern dieser perfiden Masche, bei der über falsche Profile in sozialen Medien böse Gerüchte gestreut würden. Rufzerstörende Nachrichten à la „Lehrer xy kann die Finger nicht bei sich lassen“, erzählt Henn, machten dabei nicht selten die Runde. Häufig würde auch versucht, eine Mitschülerin oder einen Mitschüler dadurch verächtlich zu machen, indem man ihre Köpfe mittels Bildbearbeitung auf Körper von Pornodarstellern kopiere.
Holocaustverharmlosung unter Kindern?
„Da kommt noch einiges auf uns zu“, sagt Henn mit ernster Stimme. Man habe es insgesamt im Land mit einer zunehmenden Verrohung in den Klassenräumen zu tun. „Eigentlich gibt es nichts, was es nicht gibt“, sagt die 40-Jährige auch mit Blick auf die grausamen Inhalte, die geteilt werden. Sogar von „Holocaust verharmlosenden Bildern“ muss Henn berichten. Naiv weitergeleitet von Zwölfjährigen. Spreche man diese darauf an, komme nicht selten die Entschuldigung: „Das ist doch nur Spaß.“
„Das nimmt alles ganz, ganz schlimme Formen an“, erklärt die Expertin des Weißen Rings zu den schockierenden Zuständen. Und diese haben natürlich ab einem gewissen Alter der Jugendlichen auch eine strafrechtliche Komponente. „Die sind noch nicht strafmündig, wenn wir vor denen stehen – aber zwei Jahre später sind sie es“, spielt Henn, die als Juristin arbeitet, auf die Teilstrafmündigkeit ab dem 14. Lebensjahr an.
„Vielen Eltern ist das gar nicht bewusst“
„Ganz ausmerzen“, sagt Henn, könne man digitale Gewalt gegen und unter Kindern wohl nicht. Und von Handy-Verboten sei man beim Weißen Ring kein Freund, da das Internet und Smartphones nun einmal nicht mehr aus dem 21. Jahrhundert wegzudenken seien. Doch wenn man es schaffen könne, 10 Prozent der Kinder durch die Workshops vor potenziell traumatisierenden Vorfällen im Netz zu bewahren, berichtet die Expertin, dann sei es das bereits mehr als wert gewesen.
Henn gibt bei den Workshops auch Eltern Tipps an die Hand, wie man die Kleinen online besser schützen kann. „Vielen Eltern ist das gar nicht bewusst, dass sie da Einstellungen auf den Handys ihrer Kinder vornehmen können.“ So könnte unter anderem festgesetzt werden, wie lange die Kurzen surfen dürfen – und gewisse Seiten könnten gar ganz gesperrt werden.
Das erklärte Hauptziel der Workshops: Schülern die nötige Medienkompetenz zu vermitteln, damit das Kind nicht mehr so häufig in den Brunnen fällt. Die jungen Handynutzer werden von Henn unter anderem davor gewarnt, Bilder an Unbekannte zu schicken. Und Eltern werde verdeutlicht, dass sie ihrem Kind auf gar keinen Fall Vorwürfe machen dürfen, wenn dies leider doch passiert sein sollte.
„Ich sehe da eine große Gefahr für unsere Gesellschaft“
Denn: Bei so manchen Workshops habe es laut Henn unter den Kindern schon „emotionale Zusammenbrüche“ gegeben. Sie seien teils traumatisiert von den Folgen digitaler Gewalt – oder schlicht durch die brutalen Inhalte, die sie Tag für Tag auf dem eigenen oder dem Handy von Banknachbarn sehen. „Ich sehe da eine große Gefahr für unsere Gesellschaft“, warnt Henn. Die Kinder seien „kleine Wesen und Seelen, die man retten muss“ – und das gehe in manchen Fällen wohl nur noch durch therapeutische Behandlung.
Der Weiße Ring arbeitet mit Therapeuten zusammen – und kann bei der Vermittlung helfen. Interessierte oder Betroffene könne sich bei der Koblenzer Außenstelle der Opferschutzorganisation melden unter Telefon 0151 / 5516 4773.