Noch eine letzte Fahrt, dann wollte Taxifahrerin Michaela Schellenbach (35) ihre Nachtschicht beenden. Wenige Minuten später wurde die vierfache Mutter erschlagen. Auch zehn Jahre nach der furchtbaren Tat weiß niemand warum.
Das Leben kennt keine Jahrestage. Im Rheintal vor Bad Breisig geht an diesem Morgen des 20. Mai 2010 alles seinen Gang. Auf dem Rhein schnurren im Minutentakt die Frachter vorbei. Auf den Gleisen zischen die Züge nach Koblenz oder Köln. Auf der Bundesstraße 9 tobt der Verkehr. Am Ufer laufen Jogger.
Wenige Meter von ihnen entfernt beginnt ein Pfad ins Niemandsland der Zivilisation. Wo selten ein Mensch hinkommt. Wo der Rhein oft alles überflutet. Wo Treibholz und Autoreifen herumliegen. Leere Wodkaflaschen und rostige Teile eines Zigarettenautomaten. Der Pfad ist steinig, mit Gras überwachsen, fast unsichtbar. Er endet an einem Kreuz aus Baustahl. Dort, wo das Leben von Ela vor zehn Jahren grausam zu Ende ging. Die Widmung: „Ela – Treff: Wolke 7 – 20.05.2000.“
Wer an diesem Morgen am Ufer steht, will schreien vor Wut. Wut auf die Frachter. Wut auf die Züge. Wut auf die Autos und Jogger. Wut auf das Leben. Weil es an diesem Jahrestag einfach weitermacht. Und weil es zulässt, dass Elas Mörder immer noch frei herumläuft.
Mord wird gesühnt. Mörder kommen hinter Gitter. Jeden Sonntagabend erzählt der „Tatort“ diese Geschichte. 20.15 Uhr: Mord, 21.45 Uhr: Mörder gefasst. Das Ermitteln der Kommissare, die Flucht des Täters, die Trauer der Opfer. Alles ist nach 90 Minuten zu Ende. Im Mordfall Ela gibt es dieses Ende nicht. Selbst nach zehn Jahren nicht. Die Koblenzer Mordkommission führt bereits 50 Aktenordner zu dem Fall. Die ZDF-Serie „Aktenzeichen XY“ rief zweimal zur Mithilfe auf. Doch bis heute weiß niemand: Wer hat Ela ermordet? Und warum?
Ein Reihenhaus in Andernach, 19. Mai 2000, 21 Uhr: Michaela Schellenbach (35) – Freunde nennen sie „dat Ela“ – hat gerade spontan die Schicht einer Kollegin übernommen. Sie arbeitet als Fahrerin für „Taxi Busch“, muss schnell zur Zentrale ins Stadtzentrum. Sie stürmt ins Wohnzimmer zu ihren Kindern. Pascal (14) und Stefanie (11) schauen fern, ihre Schwestern (4 und 3) spielen. Ein Cousin passt auf. Michaela Schellenbach umarmt jedes Kind. Sie sagt „Tschüss!“. Oder „Bis Morgen!“ oder „Passt auf euch auf!“.
Die Kinder beachten die Worte nicht genau. Sie wissen nicht, dass sie ihre Mutter nie mehr sprechen hören. Nie mehr sehen werden. Für sie ist es ein ganz normaler Abend. Als ihre Mutter die Haustür hinter sich zuzieht, schauen sie weiter fern, toben herum, gehen bald ins Bett.
Es ist Freitagabend. In Andernach ist trotzdem wenig los. Michaela Schellenbach macht 19 Fahrten mit ihrem beigen Opel Omega. Kurz nach drei Uhr will sie Schluss machen – dreht aber eine letzte Runde. Sie will zur Bäckerjungenstube, einer Kneipe in der Innenstadt. Um 3.20 Uhr meldet sie der Telefonistin in der Taxizentrale eine Fahrt in den Stadtteil Namedy. Wer ihr Fahrgast war, ist bis heute nicht bekannt.
Die meisten Mörder werden gefasst. Mord ist das Verbrechen mit der höchsten Aufklärungsquote, so das Landeskriminalamt in Mainz. Von Anfang 2000 bis Ende 2009 gab es laut der Kriminalstatistik 392 Morde und Mordversuche im Land. Davon wurden 368 Fälle aufgeklärt. Das entspricht einer Quote von 94 Prozent. Derzeit sind dem Landeskriminalamt insgesamt 172 ungeklärte Morde und Mordversuche bekannt.
Taxifahrer melden sich nach jeder Fahrt sofort in der Zentrale – das ist ehernes Gesetz. Doch Michaela Schellenbach meldet sich an jenem Abend nicht. Sie reagiert nicht auf Funksprüche, geht nicht ans Handy. Um 3.45 Uhr schlägt die Telefonistin Alarm. Gut 20 Taxifahrer aus der Region starten eine Suchaktion nach dem beigen Opel Omega (Kennzeichen: MYK-UC 35). Unter ihnen ist auch Peter Schellenbach (46), der Ehemann der Vermissten. Bald fahndet auch die Polizei. Ein Hubschrauber kreist über Namedy.
Um 6.20 Uhr finden Polizisten Michaela Schellenbach. Sie liegt am Rheinufer zwischen Brohl-Lützing und Bad Breisig. Sie ist blutüberströmt und völlig entstellt. Sie ist tot. Ein riesiger Blutfleck bedeckt den Boden. Dort steht heute das Kreuz.
Ein Reihenhaus in Andernach, 20. Mai 2000, 7 Uhr: Um diese Zeit hätte Michaela Schellenbach von ihrer Schicht nach Hause kommen sollen. Ihre Kinder schlafen noch. Plötzlich klingelt es Sturm. Die Vierjährige ist die Schnellste, sie macht auf. Vor der Tür steht ihre Tante. Sie ruft alle Kinder in die Küche – und überbringt die Todesnachricht: „Mama kommt nicht mehr. Mama ist im Himmel.“
Die jüngeren Kinder fragen nicht lange nach. Die beiden Älteren denken erst an einen Autounfall. Doch Pascal bohrt nach, bis man ihm sagt, was passiert ist. Stefanie schnappt bei ihrer Tante Gesprächsfetzen auf: Rheinufer, Klebeband, blutiger Stein ... Da weiß auch sie, es war kein Unfall. Bis Pascal und Stefanie alles wissen, vergehen Wochen. Einiges erfahren sie aus der Zeitung.
So lief die Schandtat laut der Polizei ab: Der Mörder fesselt Michaela Schellenbach an Händen und Füßen mit Klebeband. Dann schlägt er ihr mehrfach auf den Kopf. Wahrscheinlich mit einem Stein. Nach der Tat zerrt er den Körper der Toten ans Wasser. Wahrscheinlich will er ihn dort versenken – schafft es aber nicht. Er flüchtet im Taxi. Die Geldbörse der Toten nimmt er mit. Später entdeckt ein Mann, der im Radio von dem Mord erfahren hat, das Taxi auf einem Parkplatz in Sinzig.
Vier Kinder verloren über Nacht ihre Mutter
Der Mörder hat ein Leben vernichtet, zerstört hat er viele. Seit zehn Jahren martert die Tat die Hinterbliebenen. Pascal Schellenbach (heute 24) sagt, er denkt jeden Tag an seine Mutter. Manchmal spricht er mit ihr. Manchmal weint er. Stefanie Schellenbach (heute 21) geht mindestens einmal im Monat ans Grab. Sie hat zwei goldene Ringe ihrer Mutter als Erinnerung. Aber sie trägt sie nie. Sie hütet sie zu Hause im Schrank, dort sind sie am sichersten. Peter Schellenbach (heute 56) spricht nicht über den Mord an seiner Frau. Er sagt nur: „Ich habe das alles nie verarbeitet.“
Niemand weiß, wer der Mörder ist. Niemand weiß, warum er gemordet hat. „Das ist die Hölle!“, schimpft Pascal Schellenbach. Auch seine Schwester Stefanie sagt: „Ich muss wissen, wer das war. Und warum er das tat.“ Die Ungewissheit ist unerträglich für die Hinterbliebenen nicht geklärter Morde. Veit Schiemann vom Weißen Ring erklärt wa?rum: „Sie wollen, dass der Täter bestraft wird. Und sie wollen den Hintergrund der Tat erfahren. Wenn sie sich den Ablauf vorstellen können, kann das erlösend sein. Zwar wissen sie dann: Die Tat war schrecklich. Aber sie wissen auch: Sie war wenigstens nicht noch schrecklicher.“
Kann der Mörder noch gefasst werden? Möglich ist das. Wenn doch noch der richtige Hinweis aus der Bevölkerung kommt. Oder wenn der Unbekannte erneut eine Straftat verübt – und die Polizei seine DNA mit der DNA-Spur vom Tatort am Rheinufer vergleicht. Dann kann die Hölle für Familie Schellenbach irgendwann erträglicher werden.
Von Hartmut Wagner