Die Epidemie der RS-Virusfälle unter Kleinkindern bringt die Mediziner bundesweit ans Limit - Ein Koblenzer Chefarzt berichtet
Das RS-Virus grassiert wie nie zuvor: Die Kinderärzte sind im Ausnahmezustand
Ein Virus kehrt ins öffentliche Bewusstsein zurück und stellt Kinderärzte vor große Herausforderungen: Das Respiratorische Synzytial-Virus (RSV) befällt vor allem die Atemwege kleiner Kinder und kann dazu führen, dass sie auf einer Intensivstation behandelt werden müssen. Foto: Adobe Stock
MQ-Illustrations - stock.adobe.c

Die übersehene Epidemie: RS-Virusfälle unter Kleinkindern bringen Mediziner schon seit Wochen bundesweit ans Limit – Dr. Thomas Nüßlein, Chefarzt der Kinderklinik am Koblenzer Kemperhof, berichtet unser Zeitung von Kinderärzten und Pflegekräften im Ausnahmezustand.

Lesezeit 8 Minuten

Dr. Thomas Nüßlein Foto: GKM

Die Epidemie von Infektionen mit dem Respiratorischen Synzytial-Virus (RSV) bei Kleinkindern bringt auch das Team von Dr. Thomas Nüßlein, Chefarzt der Kinderklinik am Koblenzer Kemperhof, an die Grenzen. „Das ist eine unheimliche Belastungssituation. Diese Kinder schreien, wollen sich nicht behandeln lassen, sie husten, haben Durchfälle. Das belastet das Personal maximal. Wir haben alle Kapazitäten, alle Räume, das gesamte Personal ausgeschöpft. Wir sind am Limit. Dass wir trotzdem immer noch eine Mannschaft haben, die jeden Morgen wiederkommt, ist außergewöhnlich“, sagt der Kinderarzt an der Klinik des Gemeinschaftsklinikums Mittelrhein.

So wie Nüßleins Team sind alle Kinderkliniken in Deutschland am Limit. „Alle Kliniken und kinderärztlichen Praxen sind maximal überlaufen. In den Praxen braucht man oft gar nicht mehr anrufen. Mehr als 100 Patientenkontakte pro Tag sind keine Seltenheit. Das bedeutet endlose Wartezeiten und nahezu ausgebuchte Klinikbetten. Kinder müssen auf dem Flur übernachten, weil die üblichen Kapazitäten jetzt nicht mehr ausreichen. Das gilt bundesweit flächendeckend, Land auf, Land ab. Es sind derzeit nahezu täglich und flächendeckend alle Kinderkliniken von der Notfallaufnahme abgemeldet“, berichtet Nüßlein.

Deshalb versuchen die Kliniken, sich irgendwie gegenseitig zu helfen. „Wir konnten in den vergangenen Monaten etwa 20 bis 25 Kinder aus benachbarten Kliniken aufnehmen, mindestens zehn aus Bonn, obwohl es da zwei Kliniken gibt. Wir haben in diesem Jahr schon Patienten aus Köln, Wiesbaden oder Bonn übernommen, weil dort kein Bett mehr verfügbar war.“

Es ist keine Kurve mehr, sondern die Werte gehen senkrecht nach oben.

Der Kinder-Intensiv- und Notfallmediziner Florian Hoffmann über die starke Zunahme der RSV-Infektionsfälle

Und ein Ende ist noch lange nicht in Sicht: In den nächsten Wochen sei mit weiter steigenden Zahlen zu rechnen, heißt es im Wochenbericht des Robert Koch-Instituts (RKI). Der Kinder-Intensiv- und Notfallmediziner Florian Hoffmann sagt zur Entwicklung der RSV-Infektionsfälle bei Kleinkindern: „Es ist keine Kurve mehr, sondern die Werte gehen senkrecht nach oben.“ Hoffmann, Generalsekretär der Deutschen Interdisziplinären Vereinigung für Intensiv- und Notfallmedizin (Divi) und Oberarzt im Dr. von Haunerschen Kinderspital in München, spricht von „Katastrophenzuständen“ – Familien mit kranken Kindern müssten teils in der Notaufnahme auf einer Pritsche schlafen.

“Dramatisches epidemisches Geschehen"

Das sei für Deutschland ein Armutszeugnis. Viele betroffene Kinder seien schwer krank und müssten beatmet werden. Nicht nur in Deutschland, sondern auf der Nordhalbkugel gebe es ein „dramatisches epidemisches Geschehen“. Im RKI-Wochenbericht heißt es, dass die Zahl akuter Atemwegserkrankungen generell nach Daten der Onlinebefragung „GrippeWeb“ im Vergleich zur Vorwoche deutlich gestiegen ist. In der Woche bis zum 20. November lag sie demnach mit etwa sieben Millionen über dem Bereich vorpandemischer Jahre.

Ein Virus kehrt ins öffentliche Bewusstsein zurück und stellt Kinderärzte vor große Herausforderungen: Das Respiratorische Synzytial-Virus (RSV) befällt vor allem die Atemwege kleiner Kinder und kann dazu führen, dass sie auf einer Intensivstation behandelt werden müssen. Foto: Adobe Stock
MQ-Illustrations - stock.adobe.c

Wie konnte es zu diesem gewaltigen Anstieg an RS-Viruserkrankungen kommen? Das RS-Virus, sagt der Koblenzer Kindermediziner Nüßlein, „ist keine so spektakuläre Geschichte wie das Coronavirus, das RS-Virus gab es schon immer. Es gibt normalerweise alle zwei Jahre einen starken RSV-Winter, und dann gibt es dazwischen immer einen mit etwas weniger Patienten. Wissenschaftlich lässt sich das nicht erklären.“

Das RS-Virus stößt also auf eine maximal ungeschützte Bevölkerung.

Dr. Thomas Nüßlein, Chefarzt am Koblenzer Kemperhof, über die Ursachen für den starken Anstieg der RSV-Fälle

Doch irgendwie gehören die Geschichten vom Aufstieg und Fall beider Viren zusammen. Denn der weitgehende Wegfall der Corona-Beschränkungen hat laut Nüßlein dazu geführt, dass sich das RS-Virus jetzt mit aller Macht ausbreitet: „In den Welten, in denen kleine Kinder diese Viren untereinander austauschen, wie den Kindergärten, gibt es seit einigen Monaten keine Maskenpflicht mehr. Das RS-Virus stößt also auf eine maximal ungeschützte Bevölkerung. Normalerweise wird man im ersten Winter seines Lebens mit dem Virus infiziert.“

Doch für mindestens zwei Geburtenjahrgänge ist dieser Virenwinter wegen der Corona-Beschränkungen weitgehend ausgefallen. „Der letzte starke RSV-Winter war der vor der Pandemie 2019/2020. Dann gab es eine ungewöhnliche Zwischenwelle, als es im Sommer 2020 die ersten Corona-Lockerungen gegeben hat. Sonst haben wir zwischen Mai und September Ruhe“, erläutert er.

Jetzt kann sich das RS-Virus gleich zwei Dinge zunutze machen: Die Mütter selbst, sagt Nüßlein, haben wegen der Corona-Beschränkungen ihren Immunschutz nicht wieder auffrischen können. „Sie haben ihre Kinder entbunden nach einer Schwangerschaft ohne viele Viruskontakte. Die Kinder hatten also keinen Nestschutz. Die Folge ist, dass wir ganz kleine Babys als RSV-Patienten haben. Unser jüngstes Baby, das sich mit RSV infiziert hatte, war wenige Tage alt. Das hatten wir nie zuvor.“

Außerdem würden sich die Kinder, die im vergangenen Winter ein Jahr alt waren und sich wegen der strengen Corona-Regeln nicht infiziert haben, jetzt in einem ungewöhnlich hohen Alter infizieren. „Diese verschiedenen Facetten kommen jetzt alle zusammen und führen dazu, dass wir so viele RSV-Infektionen unter Kindern haben.“

Spezielle Beatmungstechnik auf den Normalstationen

Die Folgen für Kinderärzte und Kinderkliniken sind dramatisch. Als Nüßlein sich eine halbe Stunde für ein Gespräch mit unserer Zeitung nimmt, kommt er gerade aus der Mittagsbesprechung mit seinem Team. Er berichtet: „Auf der Intensivstation haben wir derzeit zwei bis drei RSV-Patienten. Dort müssen wir aber auch viele andere Patienten versorgen, Frühgeborene, Verletzte und Patienten nach Operationen. Auf den allgemein-pädiatrischen Stationen sind es derzeit mindestens 25 Kinder mit RSV, insgesamt haben wir dort 70 kleine Patienten.“

Wenn möglich, versuche sein Team, RSV-Patienten auf der Normalstation zu behandeln. Dabei setzt die Klinik unter anderem auf die High-Flow-Technik, eine spezielle, nicht invasive Beatmungstechnik. „Auf der Normalstation können wir auch leichter eine Isolation ermöglichen. Auf der Intensivstation ist die Gefahr für andere Patienten größer.“

Doch letztlich kann Nüßlein nur den Mangel verwalten: „Wir haben kein freies Bett mehr. Wir sind in der gesamten Kinderklinik bei 120 Prozent unserer Kapazitäten. Wir machen zurzeit vier Besprechungen am Tag, zweimal Pflege, zweimal Ärzte, nur um Bettenmanagement zu betreiben. Wir entscheiden am Morgen, welches Kind nach Hause gehen kann, nur um am Nachmittag, wenn neue Patienten kommen, ein Bett wieder belegen zu können. Und trotzdem gab es keinen Morgen in den vergangenen vier Wochen, an denen keine Kinder auf den Fluren lagen. Das habe ich so noch nie erlebt.“

Trotzdem könne der Kemperhof derzeit sogar immer noch Patienten aus anderen Kliniken aufnehmen. „Wir dürften eine der Kliniken sein, die im Umkreis von 250 Kilometern am seltensten abgemeldet sind, weil wir das Glück haben, einen absolut stabilen Personalstand zu haben. Das ist das Resultat einer jahrelangen Hygieneschulung. Wir haben Schwerpunkte wie Mukoviszidose oder Frühgeburten, bei denen das unabdingbar ist, weil Kinder sonst sterben würden.“ Daher habe die Pandemie sein Team nicht sonderlich aus der Bahn geworfen. „Deshalb sind die Personalausfälle wegen RSV-Infektionen auch überschaubar.“

Doch sein Team braucht noch einen langen Atem: Die klassischen Monate für RS-Viruserkrankungen seien zwar sonst Januar bis April. Da die Welle diesmal aber früher begonnen hat, rechnet er damit, „dass sie diesmal auch früher enden wird, sobald die Durchseuchung der kindlichen Population erfolgt ist. Vermutlich im Januar oder Februar wird wieder Ruhe einkehren.“

Und Nüßlein warnt trotz der dramatischen Lage vor Panikmache: „Das, was gerade passiert, ist berechenbar. Da läuft nichts aus dem Ruder. Eine Gruppe müssen wir aber im Auge behalten, die chronisch Kranken, die regelmäßige Kontrolltermine brauchen. Die laufen jetzt Gefahr, dass Termine abgesagt und verschoben werden. Deshalb gehen wir jeden Tag die Liste chronischer Patienten durch und machen ein Terminmanagement.“

Und der Chefarzt nimmt Eltern die Sorge, dass ihre Kinder nicht mehr versorgt werden können: „Ich muss meinen Mitarbeitern nicht sagen, dass sie durchhalten müssen, das ist ihr kollektives Verständnis. Und wenn der Rettungswagen vor der Tür steht und man sieht, dass das Kind Sauerstoff braucht, dann handeln wir.“

Das RS-Virus: Eine Kinderkrankheit, die es in sich haben kann

Mütter und Väter wissen: Gerade im Kindergartenalter läuft die Nase der Kleinen gefühlt den ganzen Winter. „Im ersten Kindergartenjahr haben die Kleinen durchaus 10 bis 15 Infekte, die teilweise bis zu vier Wochen dauern können“, sagt der Berliner Kinder- und Jugendarzt Jakob Maske. Doch je länger das Kind die Kita und später die Schule besucht, desto mehr lernt das kindliche Immunsystem immer mehr Erreger kennen und reagiert deswegen zunehmend robuster auf die Eindringlinge.

1 Das RS-Virus: Zu den typischen Erkrankungen, die fast jedes Kind durchmacht, gehört eine Infektion mit dem Respiratorischen Synzytial-Virus (RSV). Laut Berufsverband der Kinder- und Jugendärzte (BVKJ) kann die Atemwegserkrankung vor allem bei Säuglingen unter vier Monaten und Kindern mit chronischen Erkrankungen so schwer verlaufen, dass sie im Krankenhaus, manche sogar auf der Intensivstation, behandelt werden müssen.

2Das Krankheitsbild: „Bis zum Alter von zwei Jahren sind normalerweise nahezu 100 Prozent aller Menschen in Kontakt mit dem Virus geraten“, sagt Dr. Thomas Nüßlein, Chefarzt an der Kinderklinik des Koblenzer Kemperhof, Gemeinschaftsklinikum Mittelrhein. Nach Angaben von Nüßlein kann das Virus die gesamten Atemwege betreffen und den Magen-Darm-Trakt befallen. „Die Symptome reichen also von Schnupfen über Luftröhreninfektionen, Bronchitis, Bronchiolitis – einer Entzündung der kleinen Bronchien – bis hin zu Lungenentzündung und Magen- und Darminfekten. Das Typische für die Krankheit ist, dass es in den ganz feinen Verästelungen der Bronchien zu einer Schwellung kommt, was den Gasaustausch beeinträchtigt. Daher muss man diesen Kindern Sauerstoff zuführen. Das RS-Virus ist so brisant, weil davon sehr kleine Kinder betroffen sind, die von Kopf bis Fuß erkranken. Und die Krankheitsverläufe sind absolut unberechenbar.“ Manche Kinder kommen laut Nüßlein auf die Intensivstation, andere haben nur milde Verläufe, eine Augen- oder Magen- und Darmentzündung etwa, und können die Klinik relativ rasch wieder verlassen. Als Erwachsener reinfiziere man sich regelmäßig, werde dann aber als Folge einer im Kindesalter durchgemachten Infektion nicht mehr sehr krank. „Man hat ein bisschen Kopf- und Gliederschmerzen, Husten, nach zwei Tagen ist man meist wieder fit“, erläutert Nüßlein.

3Die Alarmzeichen: „Wenn ein kleines Kind offensichtlich Schwierigkeiten beim Atmen hat, schnell atmet und insbesondere beim Ausatmen giemende Atemgeräusche hat, sind das Alarmsignale“, sagt der Kinderarzt Ulrich Fegeler vom BVKJ. Giemen heißt: Beim Atmen zeigt sich ein pfeifendes, knisterndes oder zischendes Geräusch. Neben Fieber und Husten ist laut dem Kinderarzt ein weiteres Anzeichen, wenn das Kind müder wirkt, als man es sonst kennt. Auch Probleme beim Füttern sollten Eltern ernst nehmen. So kann es laut Robert Koch-Institut sein, dass das Kind Nahrung oder Trinken verweigert oder erbricht. All diese Anzeichen sind Anlass genug, sie vom Kinderarzt oder der Kinderärztin oder gegebenenfalls auch in der Notfallambulanz abklären zu lassen.

4Die Risikokinder: Laut dem Koblenzer Chefarzt Nüßlein gibt es zwei bekannte Risikofaktoren für eine schwere RSV-Erkrankung: Frühgeburtlichkeit und Herzfehler. „Diese Kinder haben sogar ein Sterblichkeitsrisiko. Deshalb gibt es etwas sehr Seltenes bei den RS-Viren: eine Passivimmunisierung. Eine Höchstrisikogruppe bekommt während der Virussaison in monatlichen Abständen einen Antikörper gegen RS-Viren in den Muskel gespritzt.“ In Kemperhof bekomme jährlich eine zweistellige Zahl von kleinen Patienten die Empfehlung für einen solchen Piks, den die Kinder dann in aller Regel in der Kinderarztpraxis bekommen.

5 Schutz vor einer Infektion: Jenseits der Risikogruppen hält Chefarzt Nüßlein nichts davon, dass Eltern ihre Kinder vor einer RSV-Infektion präventiv schützen. „Erstens ist das kaum möglich, zweitens ist es nicht sinnvoll. Es gibt sehr gute wissenschaftliche Daten, dass das Immunsystem dann außer Kontrolle gerät, wenn es nicht im typischen Alter mit den üblichen Virusinfektionen konfrontiert worden ist. Ein Vierjähriger etwa, der diese Infektionen nicht durchlaufen hat, der hat ein deutlich erhöhtes Risiko, Autoimmunerkrankungen auszubilden. Daher bin ich über jedes Kind heilfroh, das die typischen Viruserkrankungen durchlebt hat. Denn es ist genau das, was das Immunsystem erwartet.“ ck/dpa

Top-News aus der Region

Weitere regionale Nachrichten