Sicherheitsexperte Ralph Thiele fordert als Lehre aus dem Flutdrama einen mit Profis besetzten Leitstand des Landes
Bedingt katastrophenbereit: Sicherheitsexperte fordert einen mit Profis besetzten Leitstand des Landes
Innenminister Roger Lewentz (links) und Landrat Jürgen Pföhler (rechts) beim Besuch im Krisenzentrum des Kreises Ahrweiler am Abend der Flut. Neben Lewentz steht der Kreisfeuerwehrinspekteur, an den Landrat Pföhler die Einsatzleitung delegiert hatte. Foto: Kreis Ahrweiler

Wie können Katastrophen wie im Ahrtal mit 134 Todesopfern künftig verhindert werden? Der Krisenmanagementexperte Ralph Thiele aus Nickenich bei Andernach empfiehlt dazu in Rheinland-Pfalz mindestens einen Leitstand auf Landesebene, der sieben Tage in der Woche rund um die Uhr den Überblick behält, wenn sich eine gefährliche Lage abzeichnet.

Innenminister Roger Lewentz (links) und Landrat Jürgen Pföhler (rechts) beim Besuch im Krisenzentrum des Kreises Ahrweiler am Abend der Flut. Neben Lewentz steht der Kreisfeuerwehrinspekteur, an den Landrat Pföhler die Einsatzleitung delegiert hatte. Foto: Kreis Ahrweiler

Das Gremium könne dann frühzeitig warnen und Handlungsbedarf anmelden. Wichtig: Alle Schlüsselpositionen müssten mit Profis besetzt werden. „Angemessen wären für Rheinland-Pfalz eher drei solcher Leitstände“, erklärt der Oberst a. D. gegenüber unserer Zeitung.

Der Leitstand sollte demnach bei den obersten Katastrophenschützern in Rheinland-Pfalz angesiedelt werden. Dieser „Krisenstab des Landes“ unter der Leitung des Mainzer Innenministers existiert schon seit 2001. Zumindest auf dem Papier. Staatssekretäre und Abteilungsleiter der zuständigen Ressorts treten zweimal jährlich zusammen, um aktuelle Themen zu besprechen. Ansonsten fristet das Gremium offenbar ein eher kümmerliches Dasein.

Für Thiele steht vor allem eine zentrale Frage im Raum: „Wo war dieser Krisenstab eigentlich während der Flutkatastrophe?“ Und: „Was muss eigentlich passieren, damit dieses Gremium tagt?“ Thiele ist auch schleierhaft, welche Koordinierungsaufgaben der Stab während der Katastrophe konkret übernommen hat. Wie hat er dazu beigetragen, dass „effektive Entscheidungen der verantwortlichen Stellen herbeigeführt werden“? So beschreibt jedenfalls die Mainzer Landesregierung die Aufgaben ihres Krisenstabes. Hehre Ziele. Zumindest theoretisch. Denn von praktischen Aktionen der obersten Katastrophenschützer in den Stunden der Not und danach hat Thiele weder gehört noch gelesen.

Interessant ist dazu auch ein Blick ins Internetportal des Landes. Dort heißt es: „Die Feuerwehren als Hauptträger des Katastrophenschutzes sind so organisiert, dass sie bei Gefahren aller Art und jeden Umfangs innerhalb von acht Minuten nach der Alarmierung wirksame Hilfe einleiten können.“ Demnach soll ein Verbundsystem aus örtlichen Aufgabenträgern, des Kreises, des Landes und des Bundes „lageentsprechend wirksam Hilfe leisten“. Klingt erst mal gut. „Doch wo war diese Verbundhilfe in der Flutnacht?“, fragt sich der Krisenexperte. „Wer hat was wann gemacht beziehungsweise unterlassen?“ Ganz offensichtlich brauche der Katastrophenschutz des Landes dringend ein Update.

Das ist übrigens auch das Ergebnis einer Expertenkommission des Deutschen Feuerwehrverbands, die darüber hinaus erst Anfang November festgestellt hat: „Zur Bewältigung von Katastrophen wie etwa nach dem Starkregen in Rheinland-Pfalz und in Nordrhein-Westfalen müssen die organisatorischen Strukturen künftig deutlich modifiziert werden.“ Auch das Führungssystem und dessen Ausstattung müssten aktualisiert und internationalen Standards angepasst werden.

Vor allem fehlt es an Ausbildung und Übung – auf allen Ebenen. „Ganze drei Übungen des Krisenstabes in 20 Jahren, wie auf dem Internetportal des Landes nachzulesen ist, sind einfach viel zu wenig“, betont Thiele. Das müsse sich dringend ändern. Zudem mangele es dem „Krisenstab“ der Landesregierung an einem professionellen Unterbau, der im Ernstfall die Lage im Blick hat und Städten und Landkreisen konkrete Unterstützung gibt.

Das untergrabe zudem das Vertrauen der Bevölkerung in die Fähigkeiten der Regierung, indem es den Eindruck fördere, dass eine „Laienspielgruppe“ die Zügel in der Hand hält. „Dienstaufsicht während der Katastrophe kann diesen Mangel nicht beheben, sondern wirkt sogar eher kontraproduktiv“, betont Thiele in Anspielung auf den Besuch des Mainzer Innenministers Roger Lewentz (SPD) im Kreis Ahrweiler am Abend der Flutkatastrophe. Damit habe er die Arbeit der Einsatzkräfte eher gestört als geholfen.

Zentrale Aufgabe eines Leitstands auf Landesebene müsse es vielmehr sein, ein detailliertes Lagebild zu erstellen. Dazu müssten allerdings nicht nur Informationen gesammelt, sondern auch ausgewertet und für die Entscheider vor Ort aufbereitet werden. Dazu brauche es unbedingt Experten. Am Beispiel der Flutnacht hätte das etwa bedeutet, dass nicht nur die vom Deutschen Wetterdienst prognostizierten Niederschlagsmengen fürs Ahrtal oder die vom Landesamt für Umwelt erfassten Pegelstände in Altenahr unkommentiert weitergeleitet worden wären. Getreu dem alten Bundeswehrmotto: „Melden macht frei.“ Stattdessen müsse ein Leitstand Entscheidern auch echte Handlungsoptionen an die Hand geben.

Das Ahrtal wurde im Juli von einer Flutwelle heimgesucht, die viele Menschen in den Tod riss und gewaltige Schäden anrichtete. In der Horrornacht hat das Katastrophenmanagement versagt. 134 Menschen sterben.
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Konkret: Ein Hydrologe im Leitstand hätte etwa vorhersehen können, was 200 Liter Regen pro Quadratmeter in einem engen Flusstal bedeuten, dessen Böden bereits mit Wasser gesättigt sind. Thiele fällt auch ein Feuerwehrspezialist aus Ludwigshafen ein, der über große Erfahrungen bei Hochwassern in Hamburg verfügt. „Solche Schlüsselfunktionen müssten rund um die Uhr besetzt sein“, sagt er. Hinzu käme eine Rufbereitschaft. „Bei moderaten Kosten würde das einen hohen Nutzen bedeuten.“

Ein Leitstand könne zudem bereits frühzeitig Kontakt zum Landeskommando der Bundeswehr aufnehmen oder die Besatzung von Polizeihubschraubern alarmieren, die über Sensoren verfügen, die den Wasserstand der Ahr digital aus der Luft erfassen können. „Die Experten müssten dazu nicht mal im Krisengebiet selbst sein“, erklärt Thiele. Auch aus dem Krisenstab in Mainz heraus könne man beispielsweise bei Bedarf Unterstützung und Kommunikationsmittel bereitstellen. Sollte die Katastrophe dann Stadt oder Landkreis überfordern, könnten die obersten Katastrophenschützer unter der Führung des Mainzer Innenministers die Einsatzleitung auch übernehmen oder an die Aufsichts- und Dienstleistungsdirektion in Trier (ADD) delegieren. Mit Einverständnis des Landrats oder Oberbürgermeisters. Denn die bleiben immer noch die zuständigen und verantwortlichen Krisenmanager an Ort und Stelle.

Deshalb dürfe es das Land auch nicht zulassen, dass sie sich um ein Katastrophenschutztraining herumdrücken können. Nach Informationen unserer Zeitung hat auch Jürgen Pföhler nie an einer solchen Schulung teilgenommen, obwohl die Akademie für ihn fußläufig erreichbar gewesen wäre und er rund 20 Jahre im Amt war. Demnach soll Pföhler entsprechende Angebote mehrfach zurückgewiesen haben. Thiele zufolge kann es auch nicht sein, dass die Verantwortung wie im Fall des Kreises Ahrweiler vom Landrat auf andere Personen abgewälzt wird.

Führungsschwäche und Verantwortungsdiffusion sind nach Auffassung des Ex-Soldaten ein grundsätzliches Problem in der deutschen Verwaltung und nicht zuletzt auch in der Politik. „Und dann ist da auch immer wieder die Scheu, frühzeitig Entscheidungen zu treffen“, beklagt er. „Das zieht sich durch alle Krisen hindurch.“ Besonders mit dem früheren Ahrweiler Landrat Jürgen Pföhler geht Thiele dabei hart ins Gericht. „Da flüchtet der Kapitän von Bord und lässt seinen Kreis im Stich.“ Dem müsse schon bei der Auswahl der Kreischefs entgegengewirkt werden. In dem Amt seien Verwaltungsprofis gefragt, bei denen auch Krisenmanagementkompetenz und Führungsstärke im Stellenprofil stehen sollten.

Generell müssten sich Bund, Land und Kommunen der zunehmenden Gefahren durch Katastrophen auch angesichts des Klimawandels endlich viel bewusster werden. Da liege noch einiges im Argen. „Mehr als 1000 Personen in Deutschland bräuchten eigentlich ein Katastrophenschutztraining in der Bundesakademie für Bevölkerungsschutz und Zivile Verteidigung (BABZ) in Bad Neuenahr“, sagt Thiele. Es gebe allerdings gerade mal Platz für rund 40 Teilnehmer pro Jahr. Und: „Die Kurse sind auch nur teilweise gefüllt.“ Für Landräte und Oberbürgermeister seien die Kurse ohnehin viel zu kurz. Thieles Empfehlung: mindestens eine Woche für jeden Landrat und vier Wochen für seine wichtigsten Mitarbeiter. Der Kreischef müsse dort als Generalist vor allem eines lernen: „Wie und wann treffe ich gegebenenfalls auch eine unangenehme Entscheidung?“ Konkret für den Fall der Flutnacht: Wann wird der Katastrophenalarm ausgelöst und evakuiert?

Und schließlich müssten potenzielle Krisen und Katastrophen auch ganz konsequent durchgespielt und regelmäßig trainiert werden. „Das gilt vor allem für die Ehrenamtlichen, die in der Mehrzahl überhaupt nur einmal im Leben in diese Situation kommen.“ Gerade im Kreis Ahrweiler fehlte es dabei offenbar an Erfahrung. Nach Recherchen unserer Zeitung haben weder ein Verwaltungsstab noch die Technische Einsatzleitung der Kommune in den vergangenen 20 Jahren jemals an einer Schulung der Bundesakademie für Bevölkerungsschutz und Zivile Verteidigung (BABZ) in Bad Neuenahr teilgenommen. Offenbar hielt man das für nicht erforderlich – mit fatalen Folgen.

Der Kreis Ahrweiler steht damit aber keineswegs allein, wie die Antwort des Mainzer Innenministeriums auf eine Kleine Anfrage der Freien Wähler zeigt. Demnach verfügen im Land gerade mal drei Kreise über ein Katastrophenschutzzentrum. Darunter ist auch Bitburg-Prüm. Die Kommune ist vergleichsweise glimpflich durch die Flutnacht gekommen. Viele Kreise in Rheinland-Pfalz sind hingegen noch schlechter ausgestattet als der Kreis Ahrweiler, der immerhin laut Mainzer Innenministerium über einen Führungs- und Lageraum mit 17 Arbeitsplätzen Laptops, zwei Smartboards, Beamer und Funkraum verfügt.

Viel wichtiger als die Räume selbst ist für Thiele jedoch, wer drinnen sitzt, wie gut Verantwortliche auf ihre wichtige Aufgaben vorbereitet sind und auf welche qualifizierte Unterstützung sie bauen können. Deshalb verwundert den Krisenmanagementexperten an der Antwort des Mainzer Innenministeriums vor allem, dass das Land es den Kommunen offenbar komplett selbst überlässt, wie sie sich gegen Krisen und Katastrophen wappnen. Sein Urteil: „Da ist Rheinland-Pfalz leider noch sehr unambitioniert.“

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