Seit Gründonnerstag gilt in der Landeshauptstadt Mainz eine Ausgangssperre – zum ersten Mal seit dem Zweiten Weltkrieg. Drei Tage in Folge überschritt die Sieben-Tages-Inzidenz in Mainz die magische Marke von 100 Neuinfektionen pro 100.000 Einwohner, am Dienstag verkündete deshalb Oberbürgermeister Michael Ebling (SPD) die Notbremse – inklusive einer Ausgangssperre zwischen 21 Uhr und 5 Uhr morgens.
Es gebe erkennbar weiterhin ein hohes Ansteckungsrisiko im privaten Bereich, das trage „in erheblichem Maß dazu bei, dass sich Infektionen ausbreiten“, begründete Ebling den Erlass. Eine Ausgangssperre könne „eine sehr geeignete Maßnahme sein, um dafür zu sorgen, dass nur noch ganz wenige Menschen das Weggehen am Abend nutzen.“ Ausgerechnet in der feierfreudigen Landeshauptstadt darf nun nur noch auf die Straße, wer einen triftigen Grund hat – Arbeit etwa, der Gassigang mit dem Hund oder die Pflege von Angehörigen.
„Wenn es was hilft“, sagt die Frau auf den Terrassen am Rhein und packt bereitwillig zusammen. Ein paar Meter weiter haben sich inzwischen zwei junge Männer niedergelassen, auch sie haben die Ausgangssperre nicht auf dem Schirm. „Ich komme aus der Pfalz“, entschuldigt sich der eine, er habe davon nichts gewusst. „Also, so ganz verstehe ich es nicht“, sagt sein Kumpel und zeigt auf das menschenleere Rheinufer: „Wie soll ich mich denn hier anstecken?“ Ein paar Fahrradfahrer flitzen vorbei, offenbar auf dem Heimweg. „Die Bullen kommen!“, ruft einer im Vorbeifahren.
Tatsächlich ist von Polizei oder Ordnungsamt an diesem Abend erstaunlich wenig zu sehen. Zwischen 19 und 20 Uhr hatte die Polizei an beliebten Stellen des Rheinufers mit gleich mehreren Mannschaftswagen starke Präsenz gezeigt, um 21 Uhr ist davon aber nichts mehr zu sehen. Auf den Straßen sind noch zahlreiche Autos unterwegs, immer wieder noch Zweiergruppen von Menschen in der Innenstadt – Kontrollen aber sind nicht zu sehen.
Um 22 Uhr liegt Mainz bereits völlig ausgestorben da. Die Innenstadt gleicht einer Geisterstadt: Auf den Straßen weit und breit keine Menschenseele, jeder Schritt hallt laut durch die Gassen – so still war es in der Stadt noch nie. Straßen und Plätze sind verwaist, aus den beleuchteten Fenstern dagegen dringen hin und wieder Stimmen. Lediglich die Busse fahren, und das sogar nach normalem Fahrplan. Der Pkw-Verkehr wird hingegen weniger und weniger – zwei Stunden später sind sogar Hauptstraßen gespenstisch leer.
Kritik an der Ausgangssperre kommt aus höchst unterschiedlichen Richtungen: Die Stadt Mainz habe es seit Monaten versäumt, bestehende Corona-Regeln effektiv zu kontrollieren, Homeoffice in der Verwaltung einzuführen oder die Ladenöffnungen mit Tests zu flankieren, kritisierte der Vorsitzende der Jungen Union, Torsten Rohe. Die Ausgangssperre treffe nun vor allem die Menschen, „die zur späten Stunde mit viel Abstand ein wenig Luft schnappen wollen“, bemängelt Rohe, das sei „unverhältnismäßig im Angesicht der Nichtdurchsetzung von bestehenden Maßnahmen“.
Auch die Mainzer Linke kritisierte, eine Ausgangssperre treffe vor allem jüngere Menschen und Menschen in prekären Wohnsituationen, es werde damit „suggeriert, dass die Jugend oder der Feierabend schuld seien am Pandemie-Geschehen“, kritisierten Kreisverband und Stadtratsfraktion. „Unter Verdacht gerät, wer nachts spazieren geht.“ Die Arbeitswelt bleibe hingegen trotz der weitaus höheren Infektionsgefahr in Innenräumen von Einschränkungen weitgehend verschont, das sei falsch und ungerecht.
Auch die Linksjugend kritisierte, statt Angebote für eine Corona-konforme Freizeitgestaltung für Jugendliche zu schaffen, werde eine Ausgangssperre verhängt, die eher dazu führen werde, „dass sich Menschen doch in ihren Wohnungen treffen, wo das Infektionsrisiko höher ist anstatt abends im Park oder auf einem Spaziergang“.
Aber auch die Mainzer FDP, immerhin Partner in der Ampelkoalition, nannte eine generelle Ausgangssperre unverhältnismäßig und inakzeptabel: Kontakte, Menschenansammlungen und Treffen in Privaten seien bereits stark reguliert, eine Ausgangssperre „verlässt den Boden der Verhältnismäßigkeit und ist so nicht zu akzeptieren“, betonte Kreischef David Dietz – immerhin erlebe Mainz seinen bislang massivsten Eingriff in die Grundrechte der Bevölkerung.
Experten wie der SPD-Gesundheitspolitiker Karl Lauterbach verweisen hingegen auf Studien, nach denen Ausgangssperren einen deutlichen Effekt hatten: Laut einer Studie der Universität Oxford senkten Ausgangssperren den R-Wert im Schnitt um etwa 13 Prozent. Derzeit finde noch immer nachts viel zu viel Mobilität statt, schreibt Lauterbach auf Facebook zudem: „Die nächtliche Mobilität ist oft ganz besonders gefährlich, weil sich vieles dann drinnen abspielt – der Besuch bei Freunden ersetzt für viele den Restaurantbesuch oder Kino.“ Ohne Ausgangsbeschränkungen werde das nicht in den Griff zu bekommen sein, glaubt er. Gisela Kirschstein