Das Wahlergebnis und seine Bedeutung sickern langsam ein. Je weiter dieser Prozess voranschreitet, desto klarer wird, dass sich außer den Vertretern der politischen Ränder so recht niemand als Wahlsieger fühlen kann. Bei den Parteien der ehemaligen Ampel beginnt jetzt deshalb die personelle Erneuerung in zwar durchaus gebotener, gleichwohl bislang kaum erwartbarer Geschwindigkeit. Das ist gut so, denn zumindest bei der SPD und auch den Grünen dürfen die Hypotheken der Vergangenheit den dringend notwendigen, klaren Blick auf die Zukunft eines ganzen Landes nicht verstellen.
Aber auch dem glanzlosen Erstplatzierten, der Union, dürfte schon nach der ersten Hochrechnung gedämmert haben, dass die nun entstandene Situation geschmeidigstes Agieren erfordert. Man wird sich mit einem Koalitionspartner arrangieren müssen, vermutlich den Sozialdemokraten, der den Preis hochtreiben wird. Dabei wird man sich zeitgleich - das wird von dort so sicher gereicht werden wie der süße Senf zur Weißwurst - permanente Belehrungen aus München anzuhören haben. Und wenn es dann an Themen geht, für die man noch größere Mehrheiten benötigt, muss man mit den Grünen und sogar den Linken zumindest eine Gesprächsebene etablieren. Letzteres zumindest dann, wenn man nicht erneut die Stimmen der AfD billigend in Kauf nehmen will.
Wir hören wieder Gaulands Jagdruf
Denn: Alice Weidel wird ihre neue Rolle als Oppositionsführerin weidlich auszunutzen wissen. Schaudernd erinnern wir uns wieder an das Gaulandsche „Wir werden sie jagen“. Schon allein deshalb ist es dringend geboten, dass eine neue Regierung möglichst schnell handlungsfähig wird. Und sich danach ebenso entschlossen wie kritikfähig zeigt. Vor allem Letzteres ist ein Charakterzug, den man Friedrich Merz nicht unbedingt nachsagt.
Vor Jahrzehnten schrieb die Union den Slogan „Auf den Kanzler kommt es an“ auf ihre Wahlplakate. Ja, das wird es mehr denn je. Merz hat einen herausfordernden Spagat zwischen Kompromissbildung und dem Durchhalten einer verständlichen, nachhaltigen und das Land wieder einenden Richtung vor sich. Mit bloßem „Basta“ oder Pseudo-Trumpschem „Schon am ersten Tag“ geht da gar nichts. Sollte Merz ernsthaft auf diesem Trip sein, wird es ihm ergehen wie dem Kanzler, der mit besagtem Slogan vor Jahrzehnten auf den Wahlplakaten stand. Es war Kurt Georg Kiesinger, ein vor allem für Christdemokraten wenig erstrebenswertes Vorbild.
Überraschungen sind bei Merz nicht ausgeschlossen
Aber vielleicht überrascht der sperrige Sauerländer uns alle. Es ist in der aktuellen Situation zum Beispiel alles andere als ein Makel, über ökonomische Expertise zu verfügen. Da können diejenigen, die oft und laut nach mehr Steuern rufen, sie aber keineswegs immer selbst originär erwirtschaften, klassenkämpferische Parolen singen wie sie wollen. Auch außen- und verteidigungspolitisch ist es gut möglich, dass Merz Europa wieder zu mehr Statur verhilft als der an diesem Punkt vielfach beziehungsunfähige Olaf Scholz. Und noch etwas unterscheidet den CDU-Chef von mindestens zwei vormaligen Regierungschefs: Er hat eigene Kinder. Das ergibt fast automatisch einen anderen Zugang zu den schon viel zu lange unerledigten Hausaufgaben bei Bildung und Generationengerechtigkeit.
Sachthemen, die einer Lösung bedürfen, gibt es also mehr als genug. Auf den Kanzler kommt es an. Das gilt 2025, in einer dramatisch komplexer gewordenen Welt, dramatisch mehr als 1969.