Von Stefan Hantzschmann
Die Herren tragen Sakko, einige Krawatte. Tobias Lütke – tailliertes Karohemd, blaue Jeans, Schiebermütze – erklärt mit englischem Akzent, dass Schulen falsch designt und wie fantastisch Computerspiele sind.
Überzeugen muss er, der von sich selbst sagt, Probleme mit Autoritäten zu haben, hier niemanden. Sein kanadisches Unternehmen Shopify ist mehr als 1 Milliarde US-Dollar wert. Im ersten Quartal dieses Jahres setzte Shopify 37 Millionen Dollar um. Lütke ist Gründer und CEO, also der Geschäftsführer von Shopify. Mittlerweile arbeiten rund 800 Menschen für ihn. Der gebürtige Koblenzer gilt in Kanada als ein Shootingstar unter den Softwareentwicklern.
Kein Erfolg in der Schule
Seinen ersten Computer bekommt Tobias Lütke mit sieben – einen Amstrad CPC. Der Rechner versteht zwar die Programmiersprache Basics, aber es gibt ein Problem: Für den Rechner gibt es kaum Spiele. Tobias entdeckt in Computermagazinen Listen, mit deren Hilfe man sich selbst Spiele für einen C64 programmieren kann. „Das hat für unseren Computer natürlich nicht funktioniert, weil es kein C64 war. Also habe ich diese Listings verändert, bis sie funktionierten.“ Jahre später sagt ihm irgendjemand, dass man das, was er da macht, Programmieren nennt.
Seine Kindheit und Jugend verbringt Lütke weitgehend vor dem Rechner. Seine Schulnoten aber werden immer schlechter. „Tobias hat kaum etwas für die Schule gemacht. Wir machten uns damals große Sorgen um ihn“, sagt seine Mutter. Nächte lang verbringt er mit Computerspielen. Die virtuelle Welt fasziniert ihn. „Den nächsten Morgen gehst du in die Schule und bekommst eine Menge Antworten zu Fragen, die du noch nie hattest“, sagt er heute.
Lütke besucht damals das Görres-Gymnasium. Der Unterricht langweilt ihn. „Ich kann keine Lösungen lernen, wenn ich das Problem nicht verstehe. Es gibt keine Möglichkeit, mir Latein beizubringen. Ich habe einfach noch niemanden getroffen, der mit mir Latein sprechen will“, sagt Lütke. Programmieren dagegen ist für ihn, wie Superheldenkräfte zu haben. „Der ganze Planet wird von Computern beherrscht, und ich kann sie manipulieren.“ Zeile für Zeile bringt er der Maschine bei, Probleme zu lösen. „Das war der einzige Teil meiner Welt, den ich kontrollieren konnte.“
Später wechselt er zum Hilda-Gymnasium, wo es etwas besser läuft. Statt Latein gibt es jetzt Englischunterricht – die Sprache, die auch sein Computer spricht. Aber auch hier macht er nur das Nötigste, rechnet sich genau aus, welche Noten er braucht, um in die nächste Klassenstufe versetzt zu werden. „Für meine Eltern war das schrecklich“, sagt er. Tobias Lütke kommt aus einer bekannten Unternehmerfamilie. Der Vater ist Arzt, in der Familie der Mutter haben fast alle Abitur. Als es in der Schule schlecht läuft und die Eltern sich trennen, nimmt sein Patenonkel Mathias Hoffecker ihn mit zu Ausflügen nach Hamburg und nach München zum Tennisspielen. „Tobias war sehr introvertiert. Er hat sich hinter seinem Computer versteckt“, sagt Hoffecker, der für Lütke noch heute ein Vorbild ist.
Shopify war jahrelang fast pleite
Nach dem Realschulabschluss verläuft das Leben von Tobias Lütke mit höherer Taktfrequenz. Er beginnt eine Ausbildung als Fachinformatiker bei der Koblenzer Büro-Organisations-GmbH, wird nach einem Jahr von einer Nürnberger Firma abgeworben. Im Urlaub in Kanada lernt Lütke seine heutige Frau kennen und wandert aus. Wieder gibt es ein Problem, das er in Einzelteile seziert wie einen Code, Zeile für Zeile. Er hat kein Geld und will deshalb im Internet Snowboards verkaufen. Doch die Software für den Verkauf von Produkten im Netz gefällt ihm nicht. Also schreibt er eine neue. Zusammen mit einem Freund aus Andernach, Daniel Weinand, gründet er Shopify. Das Unternehmen bietet anderen Firmen eine Plattform an, um im Netz Produkte zu verkaufen.
Die erste Zeit ist hart. Shopify steht jahrelang kurz vor der Pleite. Lütke borgt sich Geld von seinem Schwiegervater, um seine Mitarbeiter zu bezahlen. Dann macht Lütke das, was er am besten kann: Er verwandelt das Problem in Mathematik, rechnet durch, welche Projekte Geld bringen werden, wenn man in sie investiert, steckt die Ergebnisse in eine Mappe und zeigt diese potenziellen Investoren. Es gibt großes Interesse an Shopify. Lütke siebt aus: Er lädt die Geldgeber im Winter zum persönlichen Gespräch nach Kanada ein, wo es bitterkalt ist. „Da kamen nur die, die es wirklich ernst meinten“, sagt er und lacht.
Shopify wächst, geht erfolgreich in New York und Toronto an die Börse. Wer bei Shopify arbeitet, kann sich wie im Silicon Valley fühlen. Für die Mitarbeiter gibt es viele Freiheiten, keine festen Arbeitszeiten, ein kostenloses Mittagsessen und eine Gocartrennstrecke. „Eine Umgebung zu schaffen, in der die Menschen kreativ sein können, ist wahnsinnig wichtig“, sagt Lütke. Für den CEO mit den eisblauen Augen, der auch als Chef am liebsten Tobi genannt wird, ist das vielleicht so etwas wie das Gegenteil einer Schule. Seit er sie verlassen hat, findet er die Lösungen für Probleme nur noch auf seine eigene Art.