Dass Missbrauchserlebnisse in der Kindheit meist mit ernsten psychologischen Konsequenzen für die Opfer einhergehen, das bestätigt unserer Zeitung Dr. Nils Hollenborg. Der 50-Jährige ist Chefarzt und Ärztlicher Direktor der Psychiatrie in Wissen im Kreis Altenkirchen. Genau wie der Koblenzer Oberstaatsanwalt Sven von Soosten kommt auch Hollenborg zu dem Ergebnis, dass Kindesmissbrauch meist im familiären Umfeld passiert.
Der Psychiater betont, dass es sich bei der Wissener Klinik nicht um eine Jugendpsychiatrie handelt. Somit seien die jüngsten Patienten in Wissen allesamt bereits volljährig. Gerade jüngere Betroffene wohnten nicht selten noch mit den Tätern, also mit Familienmitgliedern, unter einem Dach. Eben jener Umstand gestalte es für die Geschädigten so schwierig, sich gegen ihre Peiniger zu wehren. Das Opfer fühle sich gegenüber der eigenen Familie trotzdem zu Loyalität verpflichtet. Wichtig sei laut Hollenborg deshalb die Abkapselung vom toxischen familiären Umfeld: „Wir sind kein spezialisiertes Behandlungszentrum für Traumafolgestörungen. Es geht bei uns daher um basale Versorgung. Wir wollen eine sichere und stabile Umgebung schaffen. Dazu kann auch gehören, Patienten bei einer Anzeige zu unterstützen. Aber es ist nicht leicht, den eigenen Vater oder Bruder anzuzeigen.“
Von schmerzhaften Flashbacks
In den allermeisten Fällen sei den Patienten bei ihrer Einweisung in die Wissener Psychiatrie aber noch gar nicht bewusst, dass ihre Symptome mit einem Missbrauch in Kindertagen zusammenhängen könnten. Derart traumatische Erlebnisse würden häufig verdrängt, so Hollenborg. Und so könne es auch vorkommen, dass selbst hochbetagte Menschen nach intensiver Therapiearbeit plötzlich erkennen müssten, dass sie in Kindertagen missbraucht worden sind. Eine typische psychische Erkrankung, die auf sexuellen Missbrauch im Kindesalter zurückzuführen ist, sei laut Hollenborg die posttraumatische Belastungsstörung. Patienten erlebten hierbei in Form von sogenannten Flashbacks die ihnen vor Jahren angetane sexuelle Gewalt intensiv und immer wieder im Hier und Jetzt.
Die Erkrankung gehe ferner einher mit fundamentaler Unsicherheit, Angst und Panik. Hollenborg sagt: „Das Urvertrauen in Sicherheit ist völlig erschüttert.“ Auch dissoziative Störungen könne man bei Opfern von sexueller Gewalt in der Kindheit immer wieder diagnostizieren. „Manchmal treten Störungen auf, für die man zunächst nach einer körperlichen Ursache sucht, dann aber nichts findet, zum Beispiel bei Gangstörungen oder Bewegungsstörungen. Diese Symptome sind dann also psychisch bedingt“, erklärt Hollenborg. Ganz selten trete auch die dissoziative Identitätsstörung auf, die einst als multiple Persönlichkeitsstörung bezeichnet wurde: „Das ist eine extrem seltene psychiatrische Störung“, führt Hollenborg aus, „die ich nur ein- oder zweimal in meiner Zeit als Psychiater gesehen habe.“
In der Fachliteratur zu diesem Phänomen heiße es, dass diese Patienten, um ihr Trauma seelisch überleben zu können, mehrere Ichs in einer Person gebildet hätten. So könne der Schmerz auf mehr als zwei Schultern verteilt werden.
Gleichzeitig, so Hollenborg, müsse im Kontext von Kindesmissbrauch das sogenannte False-Memory-Syndrome mitberücksichtigt werden. Hinter diesem Begriff verbirgt sich die Annahme, dass manche Menschen, die von Missbrauch berichten, sich an Kindheitsepisoden erinnerten, die eigentlich nie stattgefunden hätten.
Die Frage der Erinnerung
Die Authentizität seiner Patienten anzuzweifeln, das komme für ihn als Psychiater indes nicht infrage, so Hollenborg. Offenkundig leide der Patient mental, ihm oder ihr psychiatrisch und psychologisch durch eine Therapie zu helfen, stehe also im Vordergrund. Die Echtheit der Erinnerungen zu überprüfen, das sei dann die Aufgabe der Polizei. Hollenborg sagt: „Wenn ich mit Patienten spreche, dann sind die Erinnerungen meist nicht genau. Die Details, die dann berichtet werden, sind selbst für die Patienten nicht sicher. Der mutmaßliche Missbrauch liegt ja meist Jahrzehnte zurück.“
Es sei auch schon vorgekommen, dass Patienten sich an Kameras erinnert hätten, was auf die Produktion von kinderpornografischem Material hindeuten würde. Der Chefarzt der Wissener Psychiatrie hat auch schon Kontakt mit potenziellen Tätern gehabt: Menschen mit pädophilen Neigungen hätten sich aus Selbsthass und aus Angst davor, zum Täter zu werden, an ihn gewandt. „Es sind schwierige therapeutische Bemühungen notwendig, um dafür zu sorgen, dass Pädophile nicht zum Täter werden. Deshalb verweise ich solche Menschen an Spezialisten“, erklärt Chefarzt Hollenborg.
Ob die Corona-Pandemie und die damit einhergehenden Lockdowns zu mehr sexueller Gewalt an Kindern geführt hätten, das kann Hollenborg nicht mit Bestimmtheit sagen. Tatsächlich ließen sich dieser Tage weniger Menschen stationär in die Wissener Psychiatrie einweisen, wohl aus Angst vor dem Coronavirus. Aber: „Hinter verschlossenen Türen fällt momentan vieles nicht auf“, lautet Hollenborgs düsteres Resümee. Johannes Mario Löhr