Senioren- und Behinderteneinrichtungen: Verbände klagen über „Freiheitsentzug“
Besonders viel Abwechslung haben Thomas Weller und seine Nachbarn aus einer Wohngruppe derzeit nicht. Ein paar Mal am Tag sieht man sich zum Essen, seit die Behindertenwerkstatt der Kreuznacher Diakonie in der Nähe von Idar-Oberstein geschlossen wurde. Manche gehen mit ihren Betreuern spazieren oder spielen Gesellschaftsspiele. „So lange das Thema Wegfahren nicht hochkommt, ist die Stimmung in Ordnung“, sagt Weller, der auch Vorsitzender des regionalen Bewohnerrats ist. Das Verbot, wegen der Coronavirus-Pandemie die Familie zu besuchen, mache aber viele traurig.
In Rheinland-Pfalz gelten für die Bewohner von Senioren- und Behinderteneinrichtungen seit Mitte April neue drastische Infektionsschutzmaßnahmen. Zusätzlich zu dem ohnehin bestehenden Besuchsverbot dürfen sie ihre Einrichtungen nun in vielen Fällen auch nicht mehr verlassen. Ausnahmen gelten für Einrichtungen ohne eigenen Außenbereich. Überall – nicht nur in Läden oder im öffentlichen Nahverkehr – müssen dabei Maske und Handschuhe getragen werden. Wer bei einem Aufenthalt außerhalb der Einrichtung möglicherweise Kontakt mit anderen Personen hatte, soll für 14 Tage isoliert werden.
Betroffene laufen Sturm
In den zwei Wochen seit Inkrafttreten der Verordnung laufen Betroffene, Wohlfahrtsverbände und Betreiber von Alten- und Behinderteneinrichtungen Sturm gegen die Bestimmungen des Mainzer Sozialministeriums. Auch dass Einrichtungen infizierte Menschen aufnehmen müssen, dazu eigene Isolierbereiche einrichten sollen und andere Bewohner zum Umzug innerhalb der Einrichtungen verpflichtet werden können, stößt auf Unmut. „Sämtliche ethischen Überlegungen, die in den vergangenen Jahrzehnten bei der Entwicklung des Bundesteilhabegesetzes maßgeblich waren, scheinen nunmehr keinerlei Rolle mehr zu spielen“, heißt es in einem Protestschreiben des Diakoniewerks Zoar.
Paritätischer Wohlfahrtsverband und Lebenshilfe warfen dem Land „drastische freiheitsentziehende Maßnahmen“ für Heimbewohner vor, die „in dieser Rigorosität von keinem anderen Bürger der Bundesrepublik Deutschland gefordert werden“. Wie die Regeln umgesetzt werden sollen, stehe in den Sternen – insbesondere, wenn ab dem 4. Mai die Behindertenwerkstätten schrittweise wieder geöffnet werden: „Gilt dann: einen Tag arbeiten, 14 Tage Quarantäne?“ Außerdem beträfen die Einschränkungen eben auch Wohngruppen, in denen behinderte Menschen ein weitgehend normales Leben führten und wo es überhaupt keine Möglichkeit gebe, jemanden zu isolieren.
Die Landesarbeitsgemeinschaft Selbsthilfe Behinderter Rheinland-Pfalz denkt mittlerweile daran, gegen die Verordnung zu klagen, wenn sie nicht schnell einschneidend überarbeitet wird. Geschäftsführer Johannes Schweizer fordert: „Bei allen Maßnahmen muss der erwartete Erfolg im Verhältnis zu den eingeschränkten Freiheitsrechten stehen.“ Das gehe auch aus den aktuellen Urteilen zu den Corona-Maßnahmen hervor. Und es sei eben nicht verhältnismäßig, Maßnahmen eigens für Behinderte zu verschärfen und für den Rest zu lockern. Je länger die Corona-Krise dauert, desto größer werden die Bedenken über die Folgen langer Isolierung für die Heimbewohner. Dorothea Zager, Pfarrerin in Worms, kann schon seit Wochen keine Besuche mehr in den beiden Altenheimen machen, die in ihrem Stadtviertel liegen.
Warten auf die nächste Mahlzeit
Dort leben viele Menschen aus einfachen Verhältnissen, die oft ohnehin keinen großen Freundeskreis haben. „Die Leute warten nur noch auf die nächste Mahlzeit oder darauf, dass sich einer von der Verwandtschaft meldet“, sagt sie. Zu manchen Bewohnern hält sie noch weiter Kontakt, sie schickt Briefe und ruft ihren Zuspruch von der Straße aus auf die Balkone hoch.
Thomas Weller konnte Anfang des Monats zumindest einen kleinen Erfolg verbuchen. „Der Bewohnerrat hat lange dafür gekämpft, dass wir hier W-LAN bekommen“, sagt er. Anfang April 2020 war es in den Wohngruppen im Hunsrück so weit, ein kleiner Lichtblick in Zeiten der Pandemie.