Nationaler Befehlshaber der Bundeswehr: Defizite im Krisenmanagement von Bund und Ländern
Aus seiner Zwischenbilanz geht die außergewöhnliche Wucht der Flutwelle hervor. Als Verteidigungsministerin Annegret Kramp-Karrenbauer den militärischen Katastrophenfall auslöste und damit eine erhöhte Verfügbarkeit von Personal und Material bewirkte, betraf das erstmals nicht nur die Bundeswehrverbände, die in der Nähe der Amtshilfe stationiert sind, sondern weit darüber hinaus – wie sich an den Spezialpionieren zeigt, die aus Husum oben im Norden umgehend in die Flutgebiete im Westen verlegt wurden. 2300 Soldatinnen und Soldaten plus 100 Zivilbeschäftigte setzte die Bundeswehr in der Spitze ein, 1950 sind auch nach zwei Wochen noch vor Ort. Hinzu kommen mehrere Hundert Soldaten, die die eigenen Kameraden verpflegen.
Und: Die Corona-Amtshilfe läuft derweil weiter: 3250 Soldatinnen und Soldaten helfen in 212 stationären und mobilen Impfzentren und in 180 Gesundheitsämtern bei der Kontaktnachverfolgung. Sollte die vierte Welle schneller kommen, ist die Bundeswehr darauf eingestellt, die Hilfe wieder hochzufahren. Dazu sind 6000 Soldatinnen und Soldaten zwei bis fünf Tage in Bereitschaft, 6000 weitere darüber hinaus einsetzbar. Dass auch die gerade erst entstehenden Heimatschutzkompanien mit 54 Reservisten in NRW und 35 in Rheinland-Pfalz bei der Fluthilfe eingriffen, bestätigt die Bundeswehr in ihrer inneren Neuorganisation, die sich mehr an der Heimat- und Bündnisverteidigung und weniger an Auslandseinsätzen orientiert. Aber es zeigten sich auch gewaltige Schwachstellen, wie sie schon bei der Organisation der Corona-Hilfe von denen bemerkt worden waren, die für die Sicherheit in Deutschland zuständig sind: „Beide Katastrophen haben dringenden Handlungsbedarf zur Verbesserung des nationalen Führungssystems auf allen Ebenen gezeigt“, unterstrich Schelleis. Sobald eine Katastrophe überörtlich ausgreife, zeigten sich Defizite bei der Herstellung und dann auch Aufrechterhaltung eines aktuellen Lagebildes, lautete sein Fazit. Einzelne Krisenstäbe seien zwischenzeitlich nicht erreichbar gewesen, hätten kein klares Bild von der Situation gehabt. Das führt dann dazu, „dass die Koordination auch nicht immer optimal läuft“. Es habe eine große Hilfsbereitschaft gegeben, ohne dass die Verantwortlichen überhaupt gewusst hätten, worauf sie zurückgreifen konnten. „Da müssen wir insgesamt besser werden“, mahnt der Generalleutnant. Insofern bewertet er es als „sehr gut“, dass im Bundesamt für Bevölkerungsschutz und Katastrophenhilfe nun eine Koordinierungsplattform mit Bund, Ländern und Bundeswehr entsteht. „Das kann aber nur ein erster Schritt sein.“ Denn diese Katastrophe zeige, dass auch die Strukturen auf Länder- und Kreisebenen ernsthaft überprüft und bei Übungen einem Belastungstest unterzogen werden müssten. Schelleis verlangt ein „gesamtstaatliches Konzept der Krisenvorsorge“. Alle Akteure sollten die fünf bedeutendsten Bedrohungen für das Land einer Risikoanalyse unterziehen und ihre Fähigkeiten darauf abstellen. „Wir haben viel, aber wir müssen uns besser vernetzen“, lautet die Konsequenz des Generals aus der jüngsten Flutkatastrophe.
Als Ergebnis der Amtshilfe sehen viele, die mit der Truppe sonst nichts am Hut hätten, die Bundeswehr nun „mit anderen Augen“. Entgegen den weitverbreiteten Vorstellungen sei das Gerät „durchaus einsetzbar“. Er sei selbst mit einem Pionierpanzer zu den Menschen im eingeschlossenen Mayschoß gefahren und habe die Dankbarkeit der Menschen erlebt, als sie versorgt werden konnten, berichtete Schelleis. Die Soldatinnen und Soldaten seien „geradezu begeistert empfangen“ worden.
Umso schwieriger sei das Auftreten von „Querdenkern“ in den Katastrophengebieten, wenn sie als „wilder Haufen von militärisch gekleideten Menschen“ den Eindruck erweckten, Soldaten zu sein, und den Opfern erzählten, Bundeswehr und Polizei würden sich zurückziehen und die Menschen ihrem Schicksal überlassen. Das sei „ein echtes Problem“, mahnte Schelleis. Die Bundeswehr habe versucht, den Fehlinformationen entgegenzutreten. Offenbar mit Erfolg: Allein der Bundeswehr-Facebook-Auftritt in Rheinland-Pfalz sei in diesen Tagen 1,8 Millionen Mal aufgerufen worden. Gregor Mayntz