Rheinland-Pfalz

Nationaler Befehlshaber der Bundeswehr: Defizite im Krisenmanagement von Bund und Ländern

Von Gregor Mayntz
Wäller weist Helfern an der Ahr den Weg Foto: dpa

Sie haben binnen Stunden Panzer, Planierraupen, Kräne, Krankenwagen, Boote und Lautsprecherfahrzeuge in die überfluteten Gebiete gebracht, provisorische Straßen und Brücken gebaut, haben Drohnen und Hubschrauber gestartet, Lagebilder per Tornadojets, Airbus-Überwachungsflieger und Satelliten geliefert. Sie haben Trinkwasser aufbereitet, Sanitätsdienste geleistet, Strom erzeugt und mit ihren schweren Lkw viele Menschen gerettet. Und sie haben Zelte aufgebaut und Evakuierte verpflegt. „Vieles davon ist immer noch in großem Umfang im Einsatz“, berichtet der Nationale Befehlshaber, General Martin Schelleis, von der Amtshilfe der Bundeswehr in den Katastrophengebieten.

Lesezeit: 2 Minuten
Anzeige

Aus seiner Zwischenbilanz geht die außergewöhnliche Wucht der Flutwelle hervor. Als Verteidigungsministerin Annegret Kramp-Karrenbauer den militärischen Katastrophenfall auslöste und damit eine erhöhte Verfügbarkeit von Personal und Material bewirkte, betraf das erstmals nicht nur die Bundeswehrverbände, die in der Nähe der Amtshilfe stationiert sind, sondern weit darüber hinaus – wie sich an den Spezialpionieren zeigt, die aus Husum oben im Norden umgehend in die Flutgebiete im Westen verlegt wurden. 2300 Soldatinnen und Soldaten plus 100 Zivilbeschäftigte setzte die Bundeswehr in der Spitze ein, 1950 sind auch nach zwei Wochen noch vor Ort. Hinzu kommen mehrere Hundert Soldaten, die die eigenen Kameraden verpflegen.

Und: Die Corona-Amtshilfe läuft derweil weiter: 3250 Soldatinnen und Soldaten helfen in 212 stationären und mobilen Impfzentren und in 180 Gesundheitsämtern bei der Kontaktnachverfolgung. Sollte die vierte Welle schneller kommen, ist die Bundeswehr darauf eingestellt, die Hilfe wieder hochzufahren. Dazu sind 6000 Soldatinnen und Soldaten zwei bis fünf Tage in Bereitschaft, 6000 weitere darüber hinaus einsetzbar. Dass auch die gerade erst entstehenden Heimatschutzkompanien mit 54 Reservisten in NRW und 35 in Rheinland-Pfalz bei der Fluthilfe eingriffen, bestätigt die Bundeswehr in ihrer inneren Neuorganisation, die sich mehr an der Heimat- und Bündnisverteidigung und weniger an Auslandseinsätzen orientiert. Aber es zeigten sich auch gewaltige Schwachstellen, wie sie schon bei der Organisation der Corona-Hilfe von denen bemerkt worden waren, die für die Sicherheit in Deutschland zuständig sind: „Beide Katastrophen haben dringenden Handlungsbedarf zur Verbesserung des nationalen Führungssystems auf allen Ebenen gezeigt“, unterstrich Schelleis. Sobald eine Katastrophe überörtlich ausgreife, zeigten sich Defizite bei der Herstellung und dann auch Aufrechterhaltung eines aktuellen Lagebildes, lautete sein Fazit. Einzelne Krisenstäbe seien zwischenzeitlich nicht erreichbar gewesen, hätten kein klares Bild von der Situation gehabt. Das führt dann dazu, „dass die Koordination auch nicht immer optimal läuft“. Es habe eine große Hilfsbereitschaft gegeben, ohne dass die Verantwortlichen überhaupt gewusst hätten, worauf sie zurückgreifen konnten. „Da müssen wir insgesamt besser werden“, mahnt der Generalleutnant. Insofern bewertet er es als „sehr gut“, dass im Bundesamt für Bevölkerungsschutz und Katastrophenhilfe nun eine Koordinierungsplattform mit Bund, Ländern und Bundeswehr entsteht. „Das kann aber nur ein erster Schritt sein.“ Denn diese Katastrophe zeige, dass auch die Strukturen auf Länder- und Kreisebenen ernsthaft überprüft und bei Übungen einem Belastungstest unterzogen werden müssten. Schelleis verlangt ein „gesamtstaatliches Konzept der Krisenvorsorge“. Alle Akteure sollten die fünf bedeutendsten Bedrohungen für das Land einer Risikoanalyse unterziehen und ihre Fähigkeiten darauf abstellen. „Wir haben viel, aber wir müssen uns besser vernetzen“, lautet die Konsequenz des Generals aus der jüngsten Flutkatastrophe.

Als Ergebnis der Amtshilfe sehen viele, die mit der Truppe sonst nichts am Hut hätten, die Bundeswehr nun „mit anderen Augen“. Entgegen den weitverbreiteten Vorstellungen sei das Gerät „durchaus einsetzbar“. Er sei selbst mit einem Pionierpanzer zu den Menschen im eingeschlossenen Mayschoß gefahren und habe die Dankbarkeit der Menschen erlebt, als sie versorgt werden konnten, berichtete Schelleis. Die Soldatinnen und Soldaten seien „geradezu begeistert empfangen“ worden.

Umso schwieriger sei das Auftreten von „Querdenkern“ in den Katastrophengebieten, wenn sie als „wilder Haufen von militärisch gekleideten Menschen“ den Eindruck erweckten, Soldaten zu sein, und den Opfern erzählten, Bundeswehr und Polizei würden sich zurückziehen und die Menschen ihrem Schicksal überlassen. Das sei „ein echtes Problem“, mahnte Schelleis. Die Bundeswehr habe versucht, den Fehlinformationen entgegenzutreten. Offenbar mit Erfolg: Allein der Bundeswehr-Facebook-Auftritt in Rheinland-Pfalz sei in diesen Tagen 1,8 Millionen Mal aufgerufen worden. Gregor Mayntz

Kommentar: In der Not entsteht ein neues Bild der Bundeswehr

Die Flutkatastrophe hat die Verletzlichkeit der Zivilisation auf grausame Weise vor Augen geführt. Sie hat als Nebeneffekt aber auch eine andere, scheinbar fest zementierte Vorstellung ins Wanken gebracht: die von der Bundeswehr, deren Hubschrauber nicht fliegen, deren Panzer nicht fahren und deren Boote nicht schwimmen.

Doch nun wimmelt es im Katastrophengebiet nur so von fliegenden Hubschraubern, fahrenden Panzern und schwimmenden Booten. So schnell wie selten gingen die gängigen Vorurteile unter. Nun hat sich die Einsatzbereitschaft des militärischen Gerätes nicht mit dem Einsetzen des Starkregens plötzlich ins Gegenteil verkehrt. Aber es ist schon nicht mehr so schlimm wie auf dem Höhepunkt der bizarren Einsparexzesse.

In Afghanistan perfektionierte die Bundeswehr das Prinzip der Priorisierung: Was im Einsatz gebraucht wurde, war auch in der Regel dort zu finden – auch wenn es im Rest der Truppe umso erbärmlicher aussah. Der damalige Verteidigungsminister Peter Struck prägte das Bild, wonach „Deutschland auch am Hindukusch verteidigt“ werde. Die jetzige Verteidigungsministerin Annegret Kramp-Karrenbauer profitiert davon, dass das am Hindukusch Gelernte nun auch der Katastrophenhilfe in Deutschland dient. Lagebilder mithilfe von Tornadojets und bundeswehreigenen Satelliten zählen zur modernen militärischen Amtshilfe. Und wenn die Bundeswehr mal nicht wegen einer fiktiven Übungslage Straßen und Brücken baut, sondern weil die Fluten die vorhandenen weggerissen haben, erscheinen ihre Fähigkeiten plötzlich in einem anderen Licht.

Schon vor dem Aussetzen der Wehrpflicht nahm der damalige Bundespräsident Horst Köhler die Einstellung der Gesellschaft zur Bundeswehr als „freundliches Desinteresse wahr“. Noch vor einem Jahr sprach Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier davon, dass die Truppe im Bewusstsein der meisten Deutschen „fast unsichtbar“ sei. Das beginnt sich in der Not gerade zu drehen. Es ist eine Chance. Truppe und Gesellschaft sollten sie nutzen.

Flutkatastrophe im Ahrtal
Meistgelesene Artikel