Ahrtal

Julia Klöckner zur Flutkatastrophe: „Die Narbe wird sichtbar bleiben“

Von Birgit Pielen
Julia Klöckner kritisiert das Krisenmanagement durch die ADD.
Julia Klöckner kritisiert das Krisenmanagement durch die ADD. Foto: Sascha Ditscher

Wie läuft die Hilfe im Ahrtal? Darüber haben wir mit Julia Klöckner, Bundeslandwirtschaftsministerin und rheinland-pfälzische CDU-Chefin, gesprochen.

Lesezeit: 6 Minuten
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Frau Klöckner, Sie kennen das Katastrophengebiet an der Ahr. Wie ist aktuell die Lage?

Jeden Tag stehe ich in Kontakt mit freiwilligen Helfern, die vor Ort im Einsatz sind, oder mit betroffenen Bewohnern. Was sie berichten: Es fehlt an professioneller Koordination, ein zentraler Ansprechpartner sei nicht erkennbar. Einige Hilfskräfte rücken unverrichteter Dinge wieder ab, weil sie nicht eingesetzt wurden. Das ist fatal, das frustriert die Menschen zu Recht. Ich bekomme jeden Tag Hilferufe, habe beispielsweise Rohre für eine provisorische Abwasserleitung organisiert, Sprit besorgt, Kochmöglichkeiten, Schuhe und Schippen für die Helfer, Reifen für die Fahrzeuge der vielen helfenden Landwirte. Dass es aber wahrnehmbar keine Stelle gibt, die das zentral steuert und koordiniert, das ist ein großes Problem.

Dabei hat doch die Aufsichts- und Dienstleistungsdirektion (ADD) in Trier die Rolle als Krisenstab und als Koordinator der Hilfsorganisationen übernommen ...

Das läuft nicht gut. Dass der ADD- Präsident einen örtlichen Abgeordneten, der rund um die Uhr hilft und das Ohr bei den Leuten hat, bei der Lagebesprechung des Raumes verwiesen hat, sagt viel aus. Großschadensereignisse wie diese überfordern Kommunen, die selbst so stark geschädigt sind. Das ist ein Systemfehler. Es wird Zeit, dass alle Hilfskräfte auch merklich und nachvollziehbar zentral koordiniert werden. Wir haben Profis der Organisationen vor Ort, zahlreiche Freiwillige – dazu braucht es eine sichtbare und ansprechbare Spitze mit dem Überblick, wann und wo was gebraucht wird.

Ist die ADD in der Funktion des Krisenkoordinators überfordert?

Den Eindruck kann man durchaus gewinnen. Ein solcher Krisenfall ist natürlich nicht nach klassischer Vorlage zu managen. Umgehendes, pragmatisches und mutiges Handeln ist gefragt. Das Land hätte früher und koordinierter agieren müssen. In Mainz müssen doch auch die ganzen Beschwerden von vor Ort ankommen, das kann man ja nicht ignorieren.

Hat auch Ihr Parteikollege Jürgen Pföhler als oberster Krisenmanager des Kreises Ahrweiler zu spät reagiert und zu spät den Katastrophenfall ausgerufen? Müsste er dafür die Verantwortung übernehmen und zurücktreten?

Keinem wünscht man, jemals in eine solche Krisensituation zu kommen. Vor Ort sind alle damit beschäftigt, wie man den Bauschutt wegräumt, eine Seuche verhindert, wie man Wasser und Strom bekommt. Die Staatsanwaltschaft Koblenz ermittelt jetzt, sie muss man in Ruhe ihre Arbeit machen lassen. Zudem haben wir jetzt noch immer viele Vermisste. Darauf liegt das Hauptaugenmerk, eine genaue Aufarbeitung wird folgen. So lange sollte man sich mit Schuldzuweisungen zurückhalten.

Herr Lewentz war da weniger zurückhaltend und verwies auf die Verantwortung des Kreises und Landrat Pföhler.

Aktuell werden noch Menschen gesucht und tot geborgen. Sich so zu äußern, fand ich deshalb nicht anständig. Wie zu hören ist, war Herr Lewentz ja selbst am Abend für kurze Zeit im Krisenstab und ging wieder, weil er die Lage im Griff glaubte. Ich war nicht dabei und kann es nicht beurteilen. Das wird alles aufzuarbeiten sein. Das ist die Politik auch den vielen Opfern und Betroffenen schuldig.

Was ist jetzt am dringendsten aus Ihrer Sicht?

Die Betroffenen im Ahrtal brauchen schnell die notwendige Grundversorgung. Sonst wird es ein verlassenes Tal werden. Es wird ganz wichtig sein, die Zukunft mit den Menschen vor Ort zu besprechen, nicht über ihre Köpfe hinweg zu planen. Wie stellen sie sich das Tal vor? Zu sagen, man baut alles wieder so auf, wie es war, wird nicht funktionieren. Es wird niemals eins zu eins wieder so pittoresk werden, weil immer die Narbe dieser Katastrophe sichtbar bleiben wird.

Fast alle Winzerbetriebe an der Ahr stehen vor den Trümmern ihrer Existenz. Der Weinjahrgang 2020 ist komplett verloren. Fotos: dpa, Sascha Ditscher
Fast alle Winzerbetriebe an der Ahr stehen vor den Trümmern ihrer Existenz. Der Weinjahrgang 2020 ist komplett verloren. Fotos: dpa, Sascha Ditscher
Foto: dpa

Was heißt das konkret für den Wiederaufbau?

Wir haben einen sehr hohen Flächenverbrauch in Deutschland. Jeden Tag werden 56 Hektar versiegelt. Das ist zu viel. Man muss also analysieren, im Ahrtal und in ganz Deutschland, wie und wo man künftig bauen kann. Welches Leitbild wünschen sich die Menschen im Ahrtal? Das bedeutet auch, dass die Bauverfahren entbürokratisiert werden müssen. Wenn wir im Ahrtal die Abläufe haben, wie wir sie von anderen Genehmigungsverfahren kennen, ziehen die Leute weg. Es muss ganz klar Sonderregelungen geben.

Wie sagt man den Menschen, dass ihr Grundstück nahe der Ahr möglicherweise nichts mehr wert ist?

Es muss ehrlich, offen und transparent vorgegangen werden. Und wir müssen den Betroffenen zuhören, die das Trauma verarbeiten müssen. Auch wenn man es irgendwann von außen vielleicht nicht mehr sieht, aber die Seele eines Menschen, der so viel Schlimmes erlebt hat, braucht Heilung und Begleitung. Das Vertrauen, das auch in die Politik bei manchen verloren geht, gewinnt man nur wieder, indem man auch konkret im Kleinen hilft. Diese Hilfe muss über die Parteigrenzen hinweg passieren. Wer kann einen solchen Prozess leiten? Das wird die ADD, glaube ich, nicht sein. Ein Sonderbeauftragter vielleicht.

Innenminister Roger Lewentz hat angekündigt, dass er eine Stabsstelle Wiederaufbau schaffen will. Reicht das?

Es kann nicht nur um Wiederaufbau gehen, sondern es muss auch – wo nötig und gewollt – um eine Neukonzeption gehen. Das darf nicht über die Köpfe der Menschen hinweg geschehen, sondern sie müssen mitgenommen werden. Wie soll ihr Ahrtal künftig aussehen? Wie kann man bauen? Wie muss Naturschutz berücksichtigt werden? Außerdem erwarte ich vom Land, dass die finanzielle Hilfe nicht um die Spendenbeiträge reduziert wird, die sehr stark fließen. Die Solidarität der Menschen ist sehr bewegend. Und das Thema Aufbauhilfen und Konzeption muss in einer Art Sonderausschuss fortwährend bearbeitet und vorangebracht werden.

Sie haben vom Vertrauensverlust in die Politik gesprochen. Woran machen Sie das fest?

Viele beklagen sich über die mangelnde Koordination der Krise durch das Land. Gleichzeitig ist aber nicht die Zeit, Parteipolitik zu betreiben...

... auch nicht, wenn es die vornehmliche Aufgabe der Opposition ist, die Regierung zu kritisieren?

Die Lage ist zu ernst, nach diesem Muster zu verfahren. Das würden die Leute vor Ort jetzt auch nicht nachvollziehen können. Viele sind stattdessen dankbar, dass wir als Landes-CDU, als Opposition, mit anpacken und helfen, wo es nur geht. Parlamentarisch wird sich unsere Landtagsfraktion zu gegebener Zeit mit der Rolle der Landesregierung beschäftigen.

In wenigen Wochen ist Bundestagswahl. Hat die Union ihre Hausaufgaben in Sachen Klimaschutz gemacht?

Wir haben in dieser Legislaturperiode die Klimaschutzziele so streng bemessen, dass selbst kritische Experten uns ein ambitioniertes Vorgehen bescheinigen. Aber es geht nicht ums Besserwissen, sondern ums Bessermachen. Das unterscheidet uns von anderen. Wir wollen Machbarkeit, Innovation und Technologieoffenheit – und wollen zum Wasserstoffland Nummer eins werden. Für meinen Bereich der Landwirtschaft haben wir ein Klimaschutzziel, wie es kein anderes Land in Europa hat. Aber wir geben auch die Instrumente an die Hand – mehr Humusaufbau, breitere Fruchtfolgen, Wiedervernässung von Mooren, Energieeinsparprogramme. Der Wald wird standortangepasst und klimaresilient umgebaut. Ich habe eine Nachhaltigkeitsprämie eingeführt, das gab es vorher noch nie. Und ich habe ein System entwickeln lassen zur Honorierung der Ökosystemleistung des Waldes, Stichwort CO2-Bindung. Echte Nachhaltigkeit geht immer nur in der Balance von Ökologie mit der wirtschaftlichen Tragfähigkeit und der sozialen Frage.

Als Bundeslandwirtschaftsministerin sind Sie auch für die Winzer an der Ahr zuständig. Wie ist nach der Flutkatastrophe die Situation in den Betrieben?

Schlimm. 65 der 68 Weinbaubetriebe sind von der Katastrophe betroffen. Keller, Inventar und Häuser sind mitunter komplett zerstört. Bei den Rebflächen sind 20 Prozent beschädigt. Bei 5 bis 10 Prozent gibt es einen Totalschaden mit mindestens drei Jahren Ernteausfall. Bei den Weinbeständen geht man von einem Komplettverlust des Jahrgangs 2020 aus, darüber hinaus von Teilverlusten der Jahrgänge 2019 und 2018. Nach einer ersten vagen Hochrechnung kann man von einem Schadensausmaß von 100 bis 150 Millionen Euro ausgehen. Noch nicht eingerechnet sind dabei die Schäden an den Gebäuden, die derzeit noch nicht alle bezifferbar sind.

Was heißt das für die Winzer?

Ich kann die Winzer nur ermutigen, nicht aufzugeben. Die Rotweine der Ahr zählen zu den besten der Welt. Ich habe mich am ersten Tag nach der Flut unter anderem um eine Fluggenehmigung für den Spritzhubschrauber gekümmert, um gezielt und verantwortungsvoll Pflanzenschutzmittel ausbringen zu können. Denn es bestand bei der tagelangen Nässe und gerade zu diesem Reifezeitpunkt ein hoher Pilzdruck in den Weinbergen, der die Traubenernte hätte vernichten können. Ärgerlich, dass die Landesebene Tage brauchte, um die vorliegende Genehmigung umzusetzen.

Die EU hat uns im Übrigen bereits unkonventionelles Vorgehen bei den Hilfen für die Landwirtschaft signalisiert. Ich habe mich dafür eingesetzt, dass die Winzer und Landwirte ihre Schäden nicht für jeden Einzelfall selbst melden müssen, sondern dass die zuständigen Behörden pauschal melden – anhand von Hochwasserkarten oder Bildaufnahmen. So kann auch die Agrarförderung rasch ausgezahlt werden. Dazu habe ich mich an den zuständigen EU-Agrarkommissar gewandt.

Abseits von politischen Entscheidungen gibt es quer durch Deutschland eine enorme Solidarität mit den Menschen an der Ahr. Aus der ganzen Republik reisen Helfer, auch viele junge Menschen, in das Katastrophengebiet, um anzupacken. Was sagt das aus über unsere Gesellschaft?

Wenn es drauf ankommt, ist schnell klar, was wichtig ist im Leben. Wenn Mitmenschen alles verloren haben, dann zählt Solidarität. Not lässt uns zusammenrücken. Ziel muss es sein, dass die Menschen an der Ahr ihre Heimat wiederhaben können.

Das Gespräch führten Chefredakteur Lars Hennemann, stellvertr. Chefredakteur Manfred Ruch und Nachrichtenchefin Birgit Pielen