Ahrtal/Koblenz

Ermittelt Staatsanwalt bald an der Ahr? Behörde prüft neue Erkenntnisse über den Ablauf der Flutkatastrophe

Von us/mr/de/pie/zca
Verwüsteter Friedhof in Bad Neuenahr-Ahrweiler
Ein Auto, das im Zuge des Hochwassers auf einen Friedhof geschwemmt wurde, steht nun auf einem verwüsteten Grabfeld. Foto: Thomas Frey/dpa/Archivbild

Die Staatsanwaltschaft Koblenz prüft jetzt doch, ob sie nach der verheerenden Flutkatastrophe im Ahrtal Ermittlungen einleitet. Dabei untersucht sie, ob ein „Anfangsverdacht der fahrlässigen Tötung und der fahrlässigen Körperverletzung infolge möglicherweise unterlassener oder verspäteter Warnungen oder Evakuierungen der Bevölkerung“ vorliegt. Hintergrund sind unter anderem Recherchen unserer Zeitung zum Ablauf der Katastrophennacht vom 14. auf den 15. Juli, die den Schluss nahelegen: Die Bevölkerung an der Ahr wurde seitens des Krisenstabs in Ahrweiler zu spät und nur unzureichend gewarnt.

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Gegen wen sich mögliche Ermittlungen richten könnten, wurde in der Mitteilung nicht gesagt. Wie der Leitende Oberstaatsanwalt Harald Kruse mitteilte, braucht er noch eine möglichst fundierte Tatsachengrundlage. Dazu werden die umfangreichen Berichte unserer Zeitung sowie anderer Medien ebenso einbezogen wie die polizeilichen Hinweise aus der Katastrophennacht. Hinzu kommen Erkenntnisse aus den bisher 85 Todesermittlungsverfahren, die die Staatsanwaltschaft nach der Identifizierung von Flutopfern bisher geführt hat. Zudem liegen, so Kruse, mittlerweile polizeiliche Erkenntnisse zum Tod von zwölf Menschen im Lebenshilfehaus Sinzig vor. Auch sie sollen mit dem Blick daraufhin ausgewertet werden, „ob sich aus ihnen der Anfangsverdacht von Straftaten ergibt“. Sie sollen darüber hinaus auch in die Prüfung des Anfangsverdachts wegen möglicherweise zu spät erfolgter Warnungen und Evakuierungen der Bevölkerung einbezogen werden, sagte Kruse.

Nach seinen Worten werden die Prüfungen der Staatsanwaltschaft wegen der Komplexität der Unwetterereignisse, des Umfangs des zu prüfenden Materials und auch der Tatsache, dass die Hilfe für die von der Katastrophe betroffenen Menschen Vorrang hat, „noch einige Tage in Anspruch nehmen“. In der vergangenen Woche hatte die Behörde noch von der Prüfung abgesehen, ob ein Ermittlungsverfahren eingeleitet werden soll. Mittlerweile wurde auch eine Strafanzeige eines Sinziger Bürgers gegen Landrat Jürgen Pföhler (CDU) bekannt, der für die Leitung des Ahrweiler Krisenstabs im Katastrophenfall verantwortlich zeichnet.

Die Zahl der Menschen, die in der Flutkatastrophe im Ahrtal ihr Leben verloren haben, ist am Montag auf 138 gestiegen. Weiterhin vermisst werden 26 Menschen, wie Florian Stadtfeld vom Polizeipräsidium Koblenz mitteilte.

Unterdessen richtet die Landesregierung den Blick nach vorn, was den Wiederaufbau des Ahrtals betrifft. Das federführende Innenministerium teilte auf Anfrage unserer Zeitung mit, dass dort nicht nur wie zunächst angekündigt eine Stabsstelle, sondern eine ganze Abteilung auf Zeit entstehen soll, die sich um die Bewältigung der Folgen des Ahrhochwassers kümmert. Zur Bedeutung: Abteilungen sind die höchste Gliederungsstufe innerhalb der Ministerialbürokratie. Über den Leitern steht praktisch nur der „politische Kopf“ der Häuser. Den bildet in diesem Fall Staatssekretärin Nicole Steingaß (SPD). Doch auch andere Ministerien sind angesichts der umfangreichen Aufgaben im Ahrtal beteiligt. Neben dem Innenministerium sind das Finanz-, das Wirtschafts- und das Klimaschutzministerium ständige Mitglieder. Alle anderen Ressorts werden bei spezifischen Fragen eingebunden. Der Chef der Staatskanzlei, Fabian Kirsch (SPD), koordiniert die Zusammenarbeit. Auch die Entwicklungsagentur des Landes ist eingebunden.

„Selbstverständlich werden wir im engen Austausch mit den Kommunen stehen“, erklärte eine Sprecherin des Hauses von Innenminister Roger Lewentz (SPD). Mit dem Aufbau biete sich auch die Chance, die Region in vielen Bereichen gut für die Zukunft aufzustellen und nachhaltig zu erneuern. Ein konkretes Budget für die neue Abteilung steht noch nicht fest. Diesbezüglich müsse die Ministerpräsidentenkonferenz in der kommenden Woche abgewartet werden. Faktisch besteht die neue Gliederung noch nicht, arbeitet aber in weiten Teilen bereits, heißt es aus dem Ministerium.

An der akuten Hilfe im Ahrtal, die von der Aufsichtsbehörde ADD gesteuert wird, regt sich hingegen immer deutlichere Kritik. Auch die rheinland-pfälzische CDU-Vorsitzende und Bundeslandwirtschaftsministerin Julia Klöckner sagte nach ihren Erfahrungen im Katastrophengebiet: „Die Koordination ist nicht gut geregelt.“ Die ADD funktioniere offenbar als oberster Krisenmanager nicht, sagte Klöckner und verwies unter anderem auf Berichte über Hilfskräfte und angereiste Feuerwehren, deren Einsatz nicht abgerufen worden sei.

Klöckner kündigte im Gespräch mit unserer Zeitung an, dass sie zur Unterstützung der schwer betroffenen Ahrwinzer Ausnahmen und Hilfen seitens der EU-Kommission anstrebt. So soll nicht jeder Betrieb einzeln seine Schäden melden müssen, sondern dies soll für die gesamte betroffene Region dokumentiert werden. 65 von 68 Winzern an der Ahr seien von der Flut teilweise oder schwer getroffen. Den Schaden schätzte die Ministerin auf 100 bis 150 Millionen Euro – ohne die Schäden an den Gebäuden.

Für den Wiederaufbau des Ahrtals forderte sie ein Vorgehen über Parteigrenzen hinweg: „Wir müssen uns einig sein, dass dies eine Sondersituation ist – Bund, Länder und EU-Kommission.“ Vom Land Rheinland-Pfalz erwartet die CDU-Landeschefin eine Unterstützung der betroffenen Kommunen bei zusätzlichem Personal zur Bewältigung der Krise. Der Aufbau dürfe aber nicht über die Köpfe der Menschen vor Ort erfolgen.

Die Soforthilfe des Landes wird derweil stark nachgefragt: Nach der Flutkatastrophe im Ahrtal sind bislang mehr als 15 Millionen Euro an Bewohner der Region ausgezahlt worden. Wie das Statistische Landesamt am Montag weiter mitteilte, wurden bislang rund 7500 Anträge bewilligt. us/mr/de/pie/zca