Rheinland-Pfalz

Christian Kunst zu den Folgen der Flutkatastrophe im Ahrtal: Ein Fukushima-Moment, der die Welt verändern könnte

Es sieht aus wie im Krieg. Diesen Satz hört man in diesen Tagen nicht nur von über 80-Jährigen, die noch Zeugen der größten menschengemachten Katastrophe des 20. Jahrhunderts waren. Man hört die Worte auch von Jüngeren, wenn sie die Bilder der Flutkatastrophe im Ahrtal sehen und sprachlos werden. Es ist beileibe nicht die erste Überschwemmung dieses Ausmaßes in Deutschland, und es wird nicht die letzte sein. Doch der Schrecken des 15. Juli 2021 im Ahrtal und im benachbarten NRW hat eine solche Wucht, dass er einen Fukushima-Moment schaffen könnte – eine politische Wende, die unser Denken über den Umgang mit der Natur und damit unser ganzes Leben revolutionieren könnte, nein: muss. Wie vor zehn Jahren, als eine Tsunami-Welle den japanischen Atommeiler unter sich begrub und zumindest in Deutschland ein radikales Umdenken mit Blick auf die Atomenergie initiierte, könnte die Flutkatastrophe im Ahrtal ein Fanal für eine Klimawende sein.

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Dies zu sagen, bedeutet nicht, das Leid der Menschen im Ahrtal kleinzureden oder gar für einen höheren Zweck politisch zu instrumentalisieren. Im Gegenteil: Die riesige Solidarität und das Mitgefühl vieler in Deutschland und der Welt mit den Opfern zeigen, dass vielen spätestens jetzt bewusst wird, wie der Klimawandel jeden von uns treffen kann und unsere Existenz bedroht. Die Welt blickt auch deshalb auf das Ahrtal und das südliche NRW, weil die vom Klimawandel forcierten Wetterextreme jetzt eine der Herzkammern des Westens getroffen haben. Es wäre der richtige Moment, dass Deutschland wie nach Fukushima vorangeht. Da tut es nichts zur Sache, wie groß der Anteil des Klimawandels an dieser Flutkatastrophe war. Fest steht, dass uns wegen der bereits vorhandenen Erderwärmung extreme Starkregen und Hitzewellen in den nächsten Jahrzehnten immer öfter ereilen werden, selbst wenn wir von heute auf morgen klimaneutral werden würden. Deshalb bedeutet eine Klimawende zweierlei: Erstens müssen wir so schnell wie möglich die Erderwärmung und den Raubbau an der Natur global stoppen. Ob dieser gewaltigen Menschheitsaufgabe dürfen wir zweitens aber nicht aus dem Blick verlieren, dass wir unser Leben dringend für den bereits im Gang befindlichen Klimawandel wappnen müssen.

Den Menschen im Ahrtal helfen Sonntagsreden oder globale Klimaschutzforderungen herzlich wenig. Wer jetzt Soforthilfe verspricht, der muss auch eine schnelle, aber durchdachte Antwort auf die unangenehme Frage geben, wie künftig ein Leben in so bedrohten Regionen noch möglich sein kann. Da geht es um einen effektiveren Hochwasserschutz, eine bessere Katastrophenprävention oder um Frühwarnsysteme wie die gute alte Sirene. Doch zur Wahrheit gehört auch, dass der Klimawandel anderswo in der Welt längst dazu geführt hat, dass ganze Landstriche unbewohnbar geworden sind. Diese unangenehmen Wahrheiten gehören zu einer ehrlichen Klimapolitik. Die Dörfer und Städte im Ahrtal also einfach wieder aufzubauen, wäre fahrlässig. Wer den Menschen ein „Weiter so“ vorgaukelt und sie in Sicherheit wiegt, riskiert, dass der Tod sie immer wieder im Schlaf heimsucht. Die Antwort auf den Krieg war ein „Nie wieder“. Das muss jetzt auch die Richtschnur der Politik nach der Flutkatastrophe im Ahrtal sein.

E-Mail: christian.kunst@rhein-zeitung.net