Interview: Wie gerecht ist Schule in Deutschland?

Berlin – Der Sohn der ungelernten Alleinerziehenden hat es in der Schule sehr viel schwerer als der Sohn des Rechtsanwalts, sagt Bildungsforscherin Jutta Allmendinger. Die Herkunft entscheide noch viel zu oft darüber, wer Abitur macht. Wir sprachen mit ihr über Ursachen von Bildungsarmut in Deutschland.

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Berlin – Der Sohn der ungelernten Alleinerziehenden hat es in der Schule sehr viel schwerer als der Sohn des Rechtsanwalts, sagt Bildungsforscherin Jutta Allmendinger. Die Herkunft entscheide noch viel zu oft darüber, wer Abitur macht. Wir sprachen mit ihr über Ursachen von Bildungsarmut in Deutschland.

Das Interview:

Prof. Allmendinger, Sie haben vier Kinder in Ihrer Schullaufbahn begleitet und kommen zu dem Schluss, dass ihre unterschiedliche Herkunft über ihre Karriere entschieden hat. Wieso?

Weil man ihnen von Anfang an unterschiedliche Möglichkeiten gegeben hat. Erkan ist in einer großen Migrationsfamilie ganz prächtig aufgewachsen. Allerdings hat er kein Deutsch gelernt. Das hat sich erst verbessert, als er in einen sehr guten, integrativen Kindergarten kam.

Erkan hatte dann bessere Noten als Akademikerkind Alex. Wieso kam er nicht aufs Gymnasium?

Lehrerinnen und Lehrer sind zögerlich, Kinder mit Migrationshintergrund oder aus sozial schwächeren Elternhäusern eine Empfehlung für das Gymnasium zu geben. Erkans Eltern waren mit den Einzelheiten des dreigliedrigen Schulsystems nicht vertraut. Bei Alex wären die Eltern Sturm gelaufen, wenn er keine Gymnasialempfehlung bekommen hätte. Wir haben nicht die Leistungsgesellschaft, in der wir zu leben meinen.

Was müsste denn Ziel einer großen Bildungsreform sein?

Das vorrangige Ziel muss sein, Bildungsarmut zu verhindern. In Deutschland können 24 Prozent der 15-jährigen Jungen nicht richtig lesen und schreiben. In vielen anderen Ländern ist dieser Anteil sehr viel niedriger. Viel zu viele erreichen keinen Hauptschul- oder Ausbildungsabschluss. Wir müssen alle befähigen, ein selbstständiges Leben führen zu können.

Das klingt fast verzweifelt …

Wir schließen große Bevölkerungsgruppen auf Dauer aus. Sie werden nicht nur Schwierigkeiten haben, einen Arbeitsplatz zu finden, und müssen daher oft langfristig staatlich alimentiert werden. Wer gut ausgebildet ist, ist im Schnitt gesünder, nimmt mehr am sozialen Leben teil, beteiligt sich aktiver an politischen Prozessen.

Aber kann Schule alle Ungleichheiten bei den Startbedingungen ausgleichen?

Die unterschiedlichen Kompetenzen, die die Kinder bis zum Alter von sechs Jahren entwickelt haben, sind weitgehend familiär bedingt. Die einen Eltern lesen vor, die anderen nicht. Manche Kinder sind in sehr guten Kindertagesstätten und werden gefördert, andere nicht. Die Kinder kommen also schon mit unterschiedlichen Voraussetzungen in die erste Klasse. Das auszugleichen, ist für die Schulen sehr schwierig.

Da muss bereits vor der Schule etwas passieren: Wir müssen Kindertagesstätten ausbauen, Kindergärten ganztags betreiben und die Pädagogik weiterentwickeln. Da ist sich die Forschung einig: Ein gewisser Ausgleich zwischen den sozialen Schichten ist vor der Schule noch möglich, später aber sehr schwer.

Was bewirkt die frühe Förderung?

Wenn wir Kinder früh fördern, entwickeln sie Eigenmotivation, Neugierde, Interesse und Sprache. Aber auch die so wichtigen sozialen und emotionalen Kompetenzen. Kindertagesstätten können da wirklich viel helfen. Man darf nicht einfach warten, bis die Eltern ihre Kinder bringen. Man muss die Familien aufsuchen und für frühes Lernen werben.

Erhöht man nicht den Druck, wenn alles immer früher starten soll?

Nein. Früher hatte man viel mehr Geschwister, Mutter und Großeltern waren zu Hause. Deren Anregungen fehlen vielen Kindern heute. Die guten Kitas können sehr viel ausgleichen. Es geht nicht um frühere Einschulung, man kann an eine Art Vorschule denken, wie es sie in Frankreich gibt. Wir sehen im Ländervergleich auch, dass beim Übergang zwischen den einzelnen Schulformen viel mehr Informationen weitergeben werden. Bei uns fängt man stets von vorn an. Es fehlt ein Übergangsmanagement.

Das längere gemeinsame Lernen ist in Deutschland bisher nicht durchsetzbar. Warum sind Sie dafür?

Eltern zeigen sich ja schon in der zweiten Klasse hochbesorgt, ob der Notendurchschnitt für das Gymnasium reichen wird. Das führt zu enormem Stress bei Eltern und Kindern. Ich bin Anhängerin eines Schulsystems, das Kinder möglichst bis zum Alter von 16 Jahren zusammen unterrichtet. Das machen so gut wie alle anderen Länder, allerdings mit der entsprechenden Pädagogik und mit anderen Rahmenbedingungen. Das heißt noch lange nicht, dass alle Kinder das Gleiche lernen. Ein Kind löst vielleicht nur die Hälfte der Aufgaben, ein anderes schafft 75 Prozent, wenige werden noch viel mehr erreichen. Ein Einheitsbrei entsteht so nicht.

Sie sind für Inklusion, also das gemeinsame Lernen von Kindern mit und ohne Behinderung. Überfrachtet man Schule damit zurzeit nicht?

Ich kann mir keine inklusiven Schulen vorstellen, die nicht auch sozial benachteiligte Kinder mitnehmen. Inklusion muss breit gefasst werden. Ein Wandel muss aber gut vorbereitet werden. Hier kommt wieder die Ausbildung der Lehrer ins Spiel. Wir brauchen eine Pädagogik der Vielfalt. Wir sollten keine Reformen einführen, ohne vorrangig die Rahmenbedingungen anzupassen.

Einen solchen Fehler haben wir bei G8 gemacht: Wir schaffen das 13. Schuljahr am Gymnasium ab, ohne für die kürzere Lernzeit die entsprechenden Lehrbücher zu haben und ohne die Lehrpläne neu zu gestalten. Der Gaul wird von hinten aufgezäumt.

Wie könnte man denn Lehrer und Schulen auf Inklusion vorbereiten?

Lehrer brauchen in der Ausbildung wesentlich höhere Pädagogik-Anteile. Wenn man mit unterschiedlichen Kompetenzen und Begabungen in einer Klasse umgehen will, muss man das als Lehrer vorher lernen. In anderen Ländern werden Grundschul- und Gymnasiallehrer gemeinsam ausgebildet.

Warum ist das in Deutschland anders?

Wir haben in Deutschland noch keinen Konsens darüber erreicht, wie wir unsere Kinder bilden wollen. Und wir haben ein föderales System. Ein bunter Flickenteppich wohin man auch schaut.

Wettbewerb kann doch auch gut sein …

Wettbewerb ist doch kein Allheilmittel. Zum einen sind die Voraussetzungen für einen wirklichen Wettbewerb ja nicht gegeben. Es gibt gar keine Transparenz, etwa bei den Leistungskennzahlen der Schulen. Zum anderen muss man doch fragen: Was soll denn passieren, wenn sich nun ein Bundesland als besonders leistungsfähig erweist – sollen dann alle anderen Familien dorthin ziehen? Wie kann man bei diesen Unterschieden denn gerechter werden?

Dort, wo es sozial schwache Regionen gibt, muss eine Bund-Länder- Finanzierung möglich werden. Wir brauchen einen kooperativen Föderalismus. Modellprojekte zeigen: Wenn Kinder aus sozial schwachen Familien Unterstützung bekommen und bis zum Abitur begleitet werden, schneiden sie gut ab. Die Kinder können das.


Das Gespräch führte Rena Lehmann

Jutta Allmendinger ist Präsidentin des Wissenschaftszentrums Berlin, einer Forschungseinrichtung im Bereich Sozialwissenschaften. Sie ist Mitglied der SPD. Ihr neues Buch „Schulaufgaben. Wie wir das Bildungssystem verändern müssen, um unseren Kindern gerecht zu werden“ ist im Pantheon Verlag erschienen.