Vier Geschichten: Flüchtlinge zwischen Frust und Tatendrang

Der Afghane Sabiullah Sachisada kehrte enttäuscht in die Heimat zurück.
Der Afghane Sabiullah Sachisada kehrte enttäuscht in die Heimat zurück. Foto: dpa

Ein Jahr Flüchtlingskrise und vier Menschen, die mittendrin waren oder es noch sind: Rückkehrer und Wartende, Optimisten und Enttäuschte. Vier Geschichten, die zeigen, dass das Thema brisant bleibt.

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Mehr als 5000 Kilometer ist Sabiullah Sachisada gereist. Im Sommer 2015 erreichte der Afghane Deutschland – war am Ziel, wie er damals dachte. Zwölf Monate später lebt er wieder in seiner Heimat. Ernüchtert und etwas ratlos, wie so mancher, der im Jahr der großen Flüchtlingskrise loszog und etwas anderes vorfand als erhofft. Sachisada war nur einer von rund einer Million Ankömmlingen 2015.

Doch Einzelschicksale wie seines prägen in ihrer Summe mit, was mal Geschichte heißen wird. Selbst wenn der Entschluss von Kanzlerin Angela Merkel vom 4. September 2015 manches überragt – die CDU-Chefin entschied an diesem Tag, Tausende Menschen unregistriert ins Land zu lassen.

Rückkehrer und Wartende, Optimisten und Enttäuschte – Geschichten der Flüchtlinge illustrieren auch das Verwaltungschaos sowie teils übereilte Versuche der Politik, die Lage zu bewältigen. Und: Trotz aller Unterschiede finden sich in den Erzählungen Gemeinsamkeiten. Zwei Heimkehrer spielen mit dem Gedanken, noch mal einen Fluchtversuch zu starten. Zwei Asylbewerber denken an ihre Familien, die in den Herkunftsregionen ausharren. Vier Menschen, ein Jahr.

1 Sabiullah Sachisada, 25 Jahre alt, arbeitet heute wieder dort, von wo er im Juni 2015 aufgebrochen war. Der Zahnarzt hat seine winzige Praxis am Stadtrand von West-Kabul nach seiner Rückkehr schnell wieder eröffnet. Sie liegt über einer Apotheke. Im Vorzimmer gibt es einige Holzstühle, im Behandlungsraum steht ein alter Zahnarztstuhl. Er scherzt mit den Patienten, um sie abzulenken. Sachisada spricht schnell und lacht viel, selbst wenn ihm nicht zum Lachen ist. Wie jetzt, als er sich an die vergangenen Monate erinnert.

Sachisada gehört der ethnischen Gruppe der Hasara an, einer schiitischen Minderheit in Afghanistan. Sie reklamiert für sich, öfter als andere Gruppen von den sunnitischen Taliban angegriffen zu werden. Hasara machen einen großen Teil der afghanischen Migranten aus. „Für uns ist es nicht leicht, sich frei zu bewegen“, sagt Sachisada. „Wenn du rausgehst und nicht weißt, ob du zurückkehrst, dann ist die einzige Alternative, das Land zu verlassen.“ Der Vater von drei Söhnen reiste los, obwohl seine Frau und seine Eltern ihn stoppen wollten. Er hoffte, sich auch beruflich in Deutschland weiterentwickeln zu können. „Die Ausbildung zum Zahnarzt ist nicht sehr gut in Afghanistan“, sagt er.

Er war einen Monat unterwegs, kam über den Iran, nachts zu Fuß über die türkische Grenze und später im Boot nach Griechenland. Er lebte sechs Monate in einer Flüchtlingsunterkunft in Mannheim. „Die Englischlehrerin im Lager, Annemarie, wurde wie eine Mutter für mich“, erzählt er. Als sie von seinem Beruf hörte, habe sie ihn in einer Zahnarztpraxis vorgestellt. Zweimal die Woche durfte er dort aushelfen: „Das war wunderbar.“ Dass Sabiullah Sachisada trotzdem nach Hause wollte und die Behörden darüber informierte, erklärt der 25-Jährige mit großen Enttäuschungen. Er spürte er eine dauernde „Benachteiligung der Afghanen“. Immer wieder seien Iraker und Syrer zuerst drangekommen. Beim Essen. Bei der Verteilung von Kleidern. Und bei den Anhörungen für Asylanträge.

Fakt ist: 2015 zählten die Behörden mehr als 150 000 Flüchtlinge aus Afghanistan. Sie waren die zweitgrößte Gruppe nach den Syrern. Doch ihre Verfahren ziehen sich oft lange hin. Im Schnitt müssen Afghanen mehr als ein Jahr auf ihre Asylentscheidung warten. Zudem verschärfte die Bundesregierung im Herbst 2015 ihren Ton, nannte es inakzeptabel, dass so viele Afghanen kämen. Schließlich habe Berlin Erhebliches für den Aufbau des zerrütteten Landes am Hindukusch getan.

Sachisada sagt, dass es ihn frustriert habe, dass die Behörden keinen Unterschied gemacht hätten zwischen Gebildeten und Ungebildeten. „Ich wollte nach Deutschland, um zu studieren – und in einem Lager steckenzubleiben, ohne klare Zukunft, das war nicht das, was ich mir vorgestellt hatte.“ Es sei zur seelischen Belastung geworden. Wann würde er endlich Geld nach Hause schicken können – an die kranke Mutter, die Frau, die Kinder? „Wäre ich nicht verheiratet – ich wäre länger geblieben. Hätte es ausgesessen.“ Doch er hielt es nicht aus.

Ungefähr 4400 Euro habe er für seine vergebliche Mission ausgegeben, erzählt Sachisada. Sein Rückflugticket hätten dann die Deutschen gezahlt. Aber so ganz will der junge Arzt den deutschen Traum noch nicht abhaken: „Falls ich noch mal so viel Geld zusammenbekomme, würde ich mit Frau und Kindern gehen. Die Gefahren auf dem Weg dorthin sind kleiner als die, die uns in Afghanistan bevorstehen.“

Den Syrer Abalhamed Oussi zermürbt die Ungewissheit.
Den Syrer Abalhamed Oussi zermürbt die Ungewissheit.
Foto: dpa

2 Abalhamed Oussis schmale Lippen wirken gepresst, über den Augenbrauen steht eine tiefe Falte. Alles sei so unsicher, was mit ihm und seiner Familie passiert, sagt der 49-Jährige auf Arabisch. Ein Übersetzer hilft beim Gespräch in Wiesbaden. Er sei ein Kurde aus Syrien, berichtet er. Oussi ist seit Oktober 2015 in Deutschland. Inzwischen hat er zwar ein Aktenzeichen beim Bundesamt für Migration und Flüchtlinge (BAMF). Auf eine Anhörung wartet er bislang aber noch. „Ich mache mir große Sorgen“, klagt er.

Das BAMF, die oberste Asylbehörde, war 2015 kolossal überfordert mit der großen Zahl an Flüchtlingen – und ist es noch. Monat für Monat wuchs der Berg an unerledigten Asylverfahren. Mehr als eine halbe Million offener Anträge haben sich dort bis heute angestaut. Selbst Syrer, die eigentlich beste Chancen auf ein Bleiberecht haben, warten zum Teil sehr lange. Dazu kommt, dass auch andere Geflüchtete sich als Syrer ausgeben, um besser durchzukommen. Diese Ungewissheit kann quälend werden – auch für Oussi.

Umgerechnet mehr als 1400 Euro habe er an Schlepper bezahlt. Den Großteil davon für die Überfahrt im wackeligen Boot von der Türkei nach Griechenland, berichtet er. Seine Frau und drei Kinder zwischen 6 und 15 Jahren leben in einem Flüchtlingscamp der Vereinten Nationen (UN) im Nord-Irak – rund 3000 Kilometer entfernt. Der Kontakt läuft über Smartphone und Internet. „Ich will, dass meine Kinder eine Zukunft haben“, sagt Oussi. „Ich bin schon alt, aber ich will, dass meine Kinder etwas lernen können.“ Für eine gemeinsame Flucht habe das Geld nicht gereicht. In seiner Heimat sei er Bauer gewesen, erzählt er. Er wolle dringend auch seine Familie nach Deutschland holen. Aus einer Innentasche zieht er ein gefaltetes Papier. Vom UN-Flüchtlingshilfswerk aus Erbil im Irak für die Familie. Unter dem Foto des Vaters: seine Frau und die Kinder. Er habe schon überlegt, wieder zu den anderen in den Irak zu reisen. Aber er habe keinen Pass.

In Wiesbaden wohnt Oussi mit zwei jüngeren Flüchtlingen in einem Zimmer. „Wir kommen ganz gut zurecht.“ In der Unterkunft lebten mehrere Hundert Menschen unterschiedlicher Kulturen. „Da gibt es auch Stress“, sagt er. „Die warten ja alle.“ Obwohl er älter als 49 wirkt und übers „Altsein“ spricht: Er hat sich um eine Stelle als Straßenarbeiter beworben. Arbeit soll helfen: „Ich will auch mal auf andere Gedanken kommen.“

Die Montenegrinerin Sabina Hajdaragic hatte keine Bleibechance.
Die Montenegrinerin Sabina Hajdaragic hatte keine Bleibechance.
Foto: dpa

3 Sabina Hajdaragic hat eine vergleichsweise kurze Strecke zurückgelegt. Gut 1250 Kilometer Luftlinie liegen zwischen ihrer Heimat im Norden Montenegros und ihrem Aufnahmeort in Niedersachsen. Die 31-Jährige war im Juni 2015 mit ihrer Familie in einen Bus gestiegen. Es sollte der Startschuss für ein neues Leben sein. Doch der schlug fehl, wie sie heute, zurück in Bijelo Polje, erzählt.

Mit Mann, Schwiegermutter und den drei Töchtern Sara (12), Sejla (8) und Dzenana (4) war sie aufgebrochen. Ziel: Deutschland. „Wir hatten gehört, dass wir dort eine Chance haben“, erzählt die Frau. Der kleine Balkanstaat Montenegro ist zwar EU-Beitrittskandidat. Doch die Armut trieb allein im ersten Halbjahr 2015 rund 1 Prozent der Menschen nach Deutschland, berichten Experten. Die meisten davon kamen wie Hajdaragic aus dem Norden, einer gebirgigen Region, die von der Regierung in Podgorica vergessen scheint.

Nach der Anmeldung in Braunschweig und Zwischenstation in Gifhorn bekam die Familie in Wesendorf eine Wohnung, in einer Gemeinde mit rund 15 000 Menschen und rotem Klinkerrathaus. „Für uns begann ein Märchen“, sagt Sabina Hajdaragic, immer noch tief bewegt. „Nie war es in meinem Leben schöner als in Deutschland. Zwei Kinder gingen in die Schule, mein Mann und ich besuchten Deutschkurse, und alle Kosten wurden bezahlt – ein Traum.“ Doch dann setzte Berlin Montenegro auf die Liste der sicheren Herkunftsstaaten – um Asylbewerber von dort schneller zurückschicken zu können. Das Gleiche gilt für fünf weitere Balkanländer, aus denen viele Menschen weggingen. Bundesinnenminister Thomas de Maizière (CDU) wollte die Zahl der Zuwanderer von dort mit aller Kraft senken.

Folge: Für Familie Hajdaragic endete im Februar 2016 der Traum vom Neuanfang. Die Behörden lehnten den Asylantrag ab, da die Familie als Fluchtgrund nur soziale Not anführen konnte. Sie bekam Tickets in die Heimat bezahlt. Das war's. Am 9. März kehrte sie nach Montenegro zurück. In die Chancenlosigkeit, wie es die 31-Jährige sieht. Denn Arbeitslosigkeit herrscht überall. Ihr Mann jobbe stundenweise als Holzfäller und mähe Wiesen. Sie habe von Zeit zu Zeit eine Putzstelle. Die Kinder gehen nicht zur Schule, weil die 500 Euro für die Erstausstattung mit Kleidern, Büchern und Ranzen fehlen, klagt Sabina Hajdaragic. Sie leben hauptsächlich von Sozialhilfe: 122,43 Euro im Monat. „Das ist ein Witz, nicht mal zum Sterben genug.“ Die Eltern helfen, der Bruder ebenfalls. Aber wie es auf längere Sicht weitergehen soll, weiß sie nicht. „Wenn wir können, versuchen wir es in Deutschland wieder“, sagt sie.

Der Syrer Hussam Khirallah wartet sehnsüchtig auf die Familie.
Der Syrer Hussam Khirallah wartet sehnsüchtig auf die Familie.
Foto: dpa

4 „Arbeite gut, dann ist alles gut“, diese Devise ist für den Syrer Hussam Khirallah wichtig. Er strahlt Optimismus aus. Das hilft. Der Bäcker (39) aus Damaskus kam Anfang September 2015 in Deutschland an. In einem Boot setzte er übers Mittelmeer nach Griechenland über – von dort ging es über Ungarn in Richtung Norden. Heute lebt er in einem Flüchtlingsheim in dem 5000-Einwohner-Ort Eutingen am Rande des Schwarzwalds.

In der Küche der Unterkunft fing er an, für Mitbewohner und Helfer syrische Süßigkeiten zu backen. „Ich weiß 80 Sorten!“ Er freut sich selbst über diese Zahl. Wenn er lacht, haben die schwarzen Augen in dem ernsten Gesicht einen spitzbübischen Glanz. Ein Mann sei von den Süßigkeiten so begeistert gewesen, dass er für ihn ein Probearbeiten organisiert habe, erzählt Hussam Khirallah. Der Besitzer der Bäckerei, Tobias Plaz, erkannte die Fähigkeiten des Kandidaten. „Ich und auch meine Frau waren uns einig: Wir versuchen es mit Hussam“, sagt Plaz. Er habe gehofft, den negativen Meldungen über Flüchtlinge etwas Positives entgegenzusetzen.

Nun radelt Hussam Khirallah um 6 Uhr von seiner Unterkunft ins Dorf. 25 Jahre Berufserfahrung als Bäcker – da wecke ihn die Gewohnheit ohnehin jeden Morgen um 4. Nur herumsitzen, rauchen und warten, das halte er nicht aus. In der Dorfbäckerei liegen außer Brezeln und Brötchen nun meist die syrischen Süßigkeiten in der Auslage. „Er macht ständig neue Sachen, und die Kunden sind sehr neugierig“, sagt Plaz. Im September will der Syrer in eine eigene Wohnung im Dorf ziehen. Sein Asylantrag hatte Erfolg, er hält eine Aufenthaltsgenehmigung für drei Jahre in Händen.

Glück perfekt? Nein. Hussam Khirallahs Frau und seine vier Kinder im Alter zwischen 2 und 14 Jahren leben weiter rund 2800 Kilometer entfernt. Doch auch der Familiennachzug hat viele Tücken. Die Bundesregierung schränkte den Nachzug für bestimmte Gruppen ein. Zwar nicht für Leute wie Khirallah mit einer Aufenthaltsgenehmigung für drei Jahre. Allerdings ziehen sich die Verfahren für Familien oft lange hin. Khirallah sagt, bei ihm sei alles recht schnell gegangen. Aber seine Frau und die Kinder stünden, so sein Eindruck, am Ende einer sehr langen Schlange. Und er ergänzt: „Ich habe Tag und Nacht nur einen Gedanken: Dass meine Familie endlich herkommen kann.“

Thomas Brey, Mohammad Jawad, Andrea Löbbecke, Lena Müssigmann und Christine-Felice Röhrs