„Mitten im Wandel“: Ein Archiv ist kein Google

Was nicht im Netz ist, ist nicht in der Welt – dieser Spruch wird leider immer wahrer„, begrüßte der Präsident des Bundesarchivs, Dr. Michael Hollmann, seine Gäste zur Konferenzwoche “Mitten im Wandel". Während vier Tagen diskutierten insgesamt 180 Archivare aus ganz Europa im Koblenzer Bundesarchiv über den digitalen Wandel, der natürlich auch nicht vor den dicken Mauern der Archive haltmacht.

Lesezeit: 4 Minuten
Anzeige

Von unserem Redakteur Jochen Magnus

Digital geboren („Born digital“)

Dieser Wandel ist ein zweifacher, wie der deutsche Chefarchivar schon zu Anfang klarstellte. Er betrifft das Archivgut selbst, das immer häufiger „born digital“(digital geboren) ist: Digitale Fotos haben Fotoabzüge ersetzt, Tonaufnahmen sind nicht mehr auf Bändern zu finden. Bei Akten sind die Verwaltungen noch nicht so weit, wie sie es sein sollten: Die E-Akte ist noch eher eine Ausnahmeerscheinung, aber ihre Verbreitung dennoch nur eine Frage der Zeit. Archivmaterial liegt also oft nicht mehr „anfassbar“ vor, man kann es auch nicht mehr zu Sicherungszwecken einfach auf Mikrofilm abfotografieren, eine Technik, die selbst im Verschwinden begriffen ist.

Archivare werden also immer mehr zu Datenarchivaren. Das ist kompliziert und sehr aufwendig: Noch kennt man keine Speichertechnik, die viele Jahrzehnte oder gar Jahrhunderte überdauern kann, wie Film oder Papier. Alle paar zehn Jahre müssen die stetig wachsenden Datenberge „versetzt“ – sprich: umkopiert – werden. Damit ist es freilich nicht getan: Wer heute die Datei eines vor 20 Jahren mal populären Textverarbeitungsprogramms öffnen will, muss mit bösen Überraschungen rechnen: Mit Meldungen wie „Datei nicht lesbar“ oder „Format unbekannt“ verweigert moderne Software die Arbeit.

Für ganz alte Dateien fehlt vielleicht sogar der passende Rechner: Wer besitzt noch einen C64, Amiga oder Atari-Computer? Für die Archivare bedeutet das, eine Zeit lang alte „Abspielgeräte“ vorrätig zu halten, um dann letztlich doch alles in standardisierte und hoffentlich langlebige Formate zu übersetzen. Man stelle sich vor, die Pharaonen hätten ihre Hieroglyphen nicht in Stein schlagen oder auf Papyros schreiben lassen, sondern bereits Magnetplatten, Flashspeicher oder Ähnliches besessen. Was wäre nach 4000 Jahren davon noch im Wüstensand oder in Totenkammern übrig geblieben?

Nachträglich digitalisiert („Made digital“)

Nicht nur die Archivalien sind zunehmend digital vorhanden, die Bürger erwarten in der modernen Internetgesellschaft auch, dass sie online suchen und finden können. Grundlage dazu ist, dass das Archivgut digitalisiert wird (soweit es eben nicht „born digital“ ist). „Made digital“ (nachträglich digitalisiert) war während der Fachtagung der Archivare im Bundesarchiv auch das Thema der Hauptkonferenz. Dabei liegt ein weiter Weg vor den Archivhütern: Von dreieinhalb Milliarden Dokumenten und Seiten im Bestand des Bundesarchivs – zusammengelegt 330 Kilometer Akten – ist trotz sechs Jahre langer Arbeit bisher nicht einmal ein halbes Prozent digitalisiert! Selbst wenn man nur ein Viertel des Bestandes als digitalisierungswürdig einschätzte, ergibt sich daraus ein jahrzehntelang währender Kraftakt.

„Graf Zeppelin“ über der Siegessäule in Berlin im Oktober 1928 © Bundesarchiv, Bild 102-06615 / CC-BY-SA / Fotomontage: jo
„Graf Zeppelin“ über der Siegessäule in Berlin im Oktober 1928 © Bundesarchiv, Bild 102-06615 / CC-BY-SA / Fotomontage: jo
Foto: ABC Georg Pahl

Aber die Digitalisierung ist mehr als nur eine lästige Pflicht für die Archivare. Sie profitieren davon selbst mindestens zweifach: Zum einen ist der Zugriff auf Digitalisiertes leichter (Mausklick statt Aktenregale verschieben), zum anderen schont der Zugriff auf digitalisiertes Archivgut die Originale: Die können sicher im Schrank verwahrt bleiben.

Und noch eine – bisher selten genutzte – Möglichkeit ergibt sich: An der Erschließung von digitalisertem und damit jedermann zugänglichem Archivgut kann die Öffentlichkeit mithelfen. Als Beispiel stellte das Landesarchiv Baden-Württemberg während der Koblenzer Archivtage ein Mitmach-Projekt („Crowdsourcing“) vor: die Erfassung von Kriegsgräbern des Landes. Nach acht Monaten wurden von interessieren Freiwilligen via Internet von 13 000 Seiten Gräberlisten bereits 8700 Seiten überprüft und durchsuchbar gemacht. Die letzte Ruhestätte vieler Kriegsopfer ist jetzt über das Internet auffindbar, die Menschen hinter den Opferzahlen und -Listen werden sichtbar.

Zugriff übers Internet („Access digital“)

Das eifrige Landesarchiv führte sein Projekt zusammen mit dem Verein für Computergenealogie aus. Dessen Schriftführer, Andreas Job, brachte dem Fachpublikum der Archiv-Fachtagung die Wünsche und Sorgen der Anwender näher. Er stellte nutzerfreundliche, an Laien gerichtete Archivportale aus den USA, Großbritannien und Frankreich der recht nüchternen Internetseite des Bundesarchivs gegenüber. „Schöner wäre eine Suchmaschine für Archivalien“, bringt er die Problematik auf den Punkt, dass interessierte Laien sich vor der Archivrecherche doch erst mal in die Fachsprache und die Systematiken der Archivspezialisten einarbeiten müssen. „Nutzen Sie die Möglichkeiten des Internets, und holen Sie Ihre Besucher dort ab“, forderte er die Archivare auf und sorgt für be- und nachdenkliches Kopfschütteln im Publikum.

Die konservativen unter den versammelten Archivaren wollen ihrer ehrwürdigen Wissenschaft lieber in bewährter Weise nachgehen: „Müssen wir Archivare wirklich überall die Nutzer abholen? Die müssen von selbst kommen“, meint ein bayerischer Archivar. Ein Kollege, Leiter eines Landesarchivs, springt ihm bei: „Unsere Aufgabe ist die Erschließung, nicht die Auswertung. Kommen Sie doch selbst vorbei und lesen die Akten!“

Aber für die meisten Archivare stehen Digitalisierung und Onlinepräsentation gar nicht mehr infrage: Sie haben längst verinnerlicht, was Bundesarchiv-Chef Hollmann zur Einleitung sagt: Archive geraten ins Abseits, wenn sie sich der Digitalisierung zumindest ausgewählter Bestände verschließen.

Deutschlands Archive und Bibliotheken sind auch schon ins digitale Zeitalter aufgebrochen: Mit dem vor wenigen Wochen offiziell eröffneten „Archivportal-D“ kann man viele deutsche Archive ausfindig machen und in manchen bereits online recherchieren. Gut sechs Millionen Archivstücke liegen hier, 400.000 davon digital abrufbar, von den restlichen nur die Beschreibung. Das Archivportal speist sich aus dem Datenbestand der Deutschen Digitalen Bibliothek (DDB), die sich als eine Art deutsches Kultur-(Anti-)Google versteht und nicht weniger als das „kulturelle und wissenschaftliche Erbe Deutschlands in digitaler Form“ anbieten möchte.

Beide, Archivportal-D wie DDB, sind nationale Bestandteile europäischer Angebote: des Archivportals Europa und der Europeana. Aber bis deren Bestände sich gefüllt haben und professionellen Ansprüchen genügen, dauert es noch lange. Währenddessen werden die Historiker, Ahnenforscher und Heimatkundler noch oft in den Lesesaal eines Archivs einkehren und dort um die Herausgabe eines Originaldokuments oder eines Mikrofilms bitten.