Merkel in der Zwickmühle: Kurs in der Flüchtlingspolitik polarisiert die Europäer

Gleich werden die Begriffe historische Bewährungsprobe und Schicksalsjahr fallen. Noch aber steht Bundeskanzlerin Angela Merkel im Bundestag am Rednerpult, und ihr Tonfall klingt, als spreche sie über ein Thema, das gerade keine Sorgen auslöst, den robusten deutschen Arbeitsmarkt zum Beispiel. Sie zeigt sich absolut zuversichtlich.

Lesezeit: 3 Minuten
Anzeige

Dabei stehen ihr heute und morgen in Brüssel beim Europäischen Rat knallharte Verhandlungen bevor, deren Ergebnis für sie, für ihre Kanzlerschaft, für Deutschland und für die Europäische Union von entscheidender Bedeutung sein wird. Merkel aber ist an einem Punkt in ihrem politischen Leben angekommen, an dem sie sich nicht mehr beirren lassen will.

Seit Wochen scheint die so oft als mächtigste Frau der Welt beschriebene Kanzlerin in Europa isoliert, sie steckt förmlich in einer Zwickmühle. Ihr Flüchtlingskurs polarisiert die Europäer. Ihre „Koalition der Willigen“, die in Europa geordnet Flüchtlinge über Kontingente aufnehmen wollte, ist recht übersichtlich. Streng genommen stand zuletzt nur noch das kleine Luxemburg an ihrer Seite, auch wenn es jetzt Bewegung zu geben scheint (siehe Text unten). Der luxemburgische EU-Kommissionspräsident Jean Claude Juncker rief Merkel via „Bild“-Zeitung dazu auf, standhaft zu bleiben. „Die Geschichte wird Angela Merkel recht geben.“

Viele von Merkels Verbündeten haben längst auch einen Plan B

Die anderen Staaten, die eine humanitäre Flüchtlingspolitik verfolgen, hantieren mittlerweile auch mit einem Plan B: Die Österreicher machen den Brenner dicht, die Schweden haben so viele Flüchtlinge aufgenommen, dass Chaos im Land auszubrechen droht und sie keinen mehr reinlassen. Und die Niederländer ducken sich, wie so viele andere europäische Staaten auch, vor der nationalistischen Bewegung in ihrem Land.

Frankreich, das mit den Folgen von Terror und misslungener Integration zu kämpfen hat, sieht sich nicht mehr in der Lage, Flüchtlinge aufzunehmen. Das hatte Frankreichs Premierminister Manuel Valls am vergangenen Wochenende in einer Form deutlich gemacht, die für die Bundeskanzlerin wie ein Schlag ins Gesicht gewirkt haben muss.

Auch Großbritannien und viele weitere Staaten sind noch nicht einmal bereit, überschaubare Zahlen von Flüchtlingen aufzunehmen. Etwa die Hälfte der EU-Länder, vornweg die osteuropäischen Staaten Polen und Ungarn, betrachten die Flüchtlingspolitik Merkels ohnehin als moralischen Imperialismus. Sie halten Stacheldrahtzäune, Schlagstöcke und Tränengas für das geeignete Mittel, die Flüchtlingskrise zu lösen.

Der Zerfall Europas in Interessengrüppchen spiegelt sich auch in der Regie des EU-Gipfels heute und morgen. Während die Visegrad-Gruppe aus Polen, Ungarn, der Slowakei und Tschechien schon vor dem Spitzentreffen über Pläne zur bulgarisch-mazedonischen Grenzschließung beraten hat, laden die Österreicher heute vor Gipfelbeginn die kleine, aber offenbar wachsende Koalition der Willigen zusammen mit Griechenland und der Türkei ein. Bei dem Treffen sollen die Pläne der europäisch-türkischen Zusammenarbeit ausgelotet werden, in der die Kanzlerin den Schlüssel zur Bewältigung der Flüchtlingskrise sieht. Zumal auch ihre Gegner einen effektiven Grenzschutz in der Flüchtlingspolitik begrüßen würden.

Die Deutschen sind zuversichtlich, dass dieser Plan funktionieren wird: „Wenn sich der Europäische Rat darauf verständigt, dass die gemeinsamen europäischen Außengrenzen gesichert werden müssen, dann kann bis Ende Februar eine spürbare Verringerung des Flüchtlingszustroms erreicht werden“, sagte der frühere Verteidigungsminister und Unionsfraktionsvize Franz-Josef Jung (CDU) gegenüber unserer Zeitung. „Die Nato-Einheiten, die bereits im Mittelmeer sind, haben dafür schon die Voraussetzungen geschaffen.“ Zudem habe die Türkei akzeptiert, dass deutsche Polizeibeamte zusammen mit ihren türkischen Kollegen an den Stränden der Türkei zur Grenzsicherung beitragen. In Regierungskreisen wird zudem betont, dass es nicht sein kann, dass pro Monat auf dem Seegebiet zwischen zwei Nato-Staaten 300 Flüchtlinge ums Leben kommen.

Breite Unterstützung für Kanzlerin Merkels Kurs im Bundestag

Merkel hatte schon vor Wochen angekündigt, dass sie mit dem Europäischen Rat im Februar eine Zwischenbilanz ihrer Flüchtlingspolitik ziehen will. Im Bundestag warb sie erneut für ihren Weg, Fluchtursachen zum Beispiel durch Schutzzonen zu bekämpfen, mit der Türkei zu kooperieren und eben die EU-Außengrenzen zu sichern. „Oder müssen wir aufgeben und stattdessen die griechisch-mazedonisch-bulgarische Grenze schließen?“, fragte Merkel. Dies war aber eine rhetorische Frage. Sie ließ keinen Zweifel daran, dass sie weiter an ihren Weg glaubt.

Im Bundestag stieß Merkel auf breite Unterstützung. „Wer vor Terror, Krieg und Verfolgung flieht, soll die Möglichkeit von Schutz und Aufnahme in Deutschland haben“, sagte sie. Da klatschten Vertreter aller Fraktionen von der CSU bis zur Linken. SPD-Fraktionschef Thomas Oppermann verteidigte ihre Politik gegen CSU-Chef Horst Seehofer, der von einer „Herrschaft des Unrechts“ gesprochen hatte.

In den vergangenen Tagen baute Merkel vor, dass sie nach dem Gipfel keine negative Bilanz ziehen muss. Nachdem neben ihr in Europa niemand bereit ist, über Kontingente Flüchtlinge aufzunehmen, räumte sie das Thema ab. Dazu wird es keinen Beschluss geben. Stattdessen heißt es nun, die Zahl der ankommenden Flüchtlinge in Europa soll erst einmal reduziert werden, dann könne man über Kontingente reden.