Ingelheim

Zelte, Schotter und das Gefühl von Freiheit

Ein neues Kettcar für die Jüngeren, Fußbälle und Tore für die Älteren: Die DRK-Notunterkunft für Flüchtlinge in Ingelheim hat ihren Bewohnern nicht wirklich viel zu bieten. „Aber wer vorher gar nichts hatte, für den ist das bisschen hier schon viel“, sagt Anke Marzi, die Leiterin der Einrichtung.
Ein neues Kettcar für die Jüngeren, Fußbälle und Tore für die Älteren: Die DRK-Notunterkunft für Flüchtlinge in Ingelheim hat ihren Bewohnern nicht wirklich viel zu bieten. „Aber wer vorher gar nichts hatte, für den ist das bisschen hier schon viel“, sagt Anke Marzi, die Leiterin der Einrichtung. Foto: Bernd Eßling

„Hier fühlen wir uns wohl“, sagt H. (Name anonymisiert). Der 53-jährige Syrer blickt sich um und atmet hörbar durch. Was er sieht, ist sicher nicht das, was ein Durchschnittseuropäer unter einer Wohlfühloase verstehen würde. Für H., der gerade eine Odyssee durch Europa hinter sich hat, ist es momentan das Paradies.

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Von unserem Redakteur Dominic Schreiner

Ein kahler Platz im Industriegebiet am Ingelheimer Stadtrand: Hier stehen hinter einem Zaun große weiße Zelte, gruppiert um einen Platz, der provisorisch mit Schotter aufgeschüttet ist. Zelte, wie man sie sonst auf Festen oder bei Messen findet. Im hinteren Bereich des Areals gibt es ein bisschen Grün, eine braunfleckige Rasenfläche, ein paar Bäume und Büsche.

Seit gut zwei Wochen leben bis zu 150 Menschen in der neuen Außenstelle der Aufnahmeeinrichtung für Asylbegehrende (AfA) in Ingelheim in diesen Zelten. Nur für eine kurze Zeit, im Idealfall eine Woche, finden Flüchtlinge aus Syrien, Somalia oder Albanien, die es nach ihrer Flucht gerade ins sichere Deutschland geschafft haben, im Notlager Unterschlupf.

Ein Familienzelt, ein Zelt für Männer

Verteilt sind sie auf zwei Wohnzelte, 30 mal 15 Meter groß. In dem einen Zelt leben Familien, in dem anderen ausschließlich Männer. Dort stehen in langen Reihen je 75 Betten, die normalerweise bei Katastropheneinsätzen verwendet werden. Dann gibt es noch ein weiteres Zelt mit Sanitäranlagen und eines, in dem gegessen wird.

Einer, der schon geholfen hat, Betten und Zelte aufzubauen, ist Andreas Humrich. Seine aktuelle Funktion im Lager? Er überlegt. „Technischer Leiter“, springt ihm Anke Marzi, stellvertretende Geschäftsführerin des rheinland-pfälzischen Landesverbands des Deutschen Roten Kreuzes (DRK) und verantwortlich für die Einrichtung, bei. Dass Humrich nicht genau weiß, wie er seine Position bezeichnen soll, verwundert nicht.

Schließlich ist im Notlager eigentlich fast alles noch im Entstehen begriffen. Erst Freitagmittag vor zweieinhalb Wochen bat die rheinland-pfälzische Migrationsministerin Irene Alt das DRK telefonisch um Hilfe. Zu diesem Zeitpunkt platzte die eigentliche AfA in Ingelheim, etwa 200 Meter Luftlinie von der Notunterkunft entfernt, mit 800 Flüchtlingen belegt aus allen Nähten, eine Notlösung musste her. Montags, also zweieinhalb Tage später, standen die Zelte, Strom- und Wasserleitungen waren gelegt, der unebene Boden planiert und mit Schotter aufgefüllt, die ersten Flüchtlinge kamen.

Eigentlich ist Humrich Chemiestudent, daneben Ehrenamtler beim DRK. Jetzt ist er für die Dauer seiner Semesterferien vorübergehend einer von fünf hauptamtlichen DRKlern, die die Unterkunft betreuen. Der Student kümmert sich um Technikfragen, hilft aber auch bei organisatorischen Belangen mit. „Es ist ganz sicher kein Job wie jeder andere“, sagt Humrich, „aber es macht einfach Spaß.“ Und die Verständigung mit den Flüchtlingen? „Hände, Füße, Englisch“, sagt Humrich.

Eltern von Helferin selbst in AfA

Wenn er gar nicht mehr weiter-weiß, kann ihm A.G. helfen, zumindest so lange, wie die Flüchtlinge Albanisch oder Serbo-Kroatisch sprechen. Beide Sprachen beherrscht A.G.. Das verbindet sie mit den Menschen im Lager. Und da ist noch mehr, was sie mit ihnen gemein hat: A.G., ebenfalls Studentin, wurde in Deutschland geboren. Doch ihre Eltern waren zuvor selbst schon in der AfA in Ingelheim untergebracht, kamen während des Jugoslawienkriegs als Flüchtlinge her.

Eine tiefere Verbindung zu den Flüchtlingen im Lager aufzubauen, gelingt den beiden nicht. Tagsüber sind die DRKler eingespannt, erst abends können sie sich ein paar Minuten für die Schutzsuchenden nehmen. Aber es gibt viele kurze, aber intensive Momente, Begegnungen, die sich einprägen.

„Wir sind geflohen, weil ich nicht wollte, dass meine Söhne im Krieg in Syrien töten müssen oder getötet werden“, sagt H., der mit seiner Familie Damaskus verlassen hatte, nachdem in ihrer Wohnung eine Rakete eingeschlagen war. Mit seiner Frau und den beiden Söhnen war er erst nach Jordanien geflohen. „Dort hat man uns wie Dreck behandelt“, sagt er. Seine Augen füllen sich mit Tränen: „Ihr Menschen hier gebt uns wieder das Gefühl, auch Menschen zu sein“, spricht er zu den DRKlern. Dann dreht er sich um und geht über den Schotter zurück ins Zelt.