Verheerende Folgen eines Medikaments

Wie der größte Arzneimittelskandal in der deutschen Nachkriegsgeschichte begann – unser Archivar Frank Girmann hat die Ereignisse noch einmal dokumentiert:

Lesezeit: 2 Minuten
Anzeige

Wie der größte Arzneimittelskandal in der deutschen Nachkriegsgeschichte begann – unser Archivar Frank Girmann hat die Ereignisse noch einmal dokumentiert:

1954: Zwei Mitarbeitern des Unternehmens „Chemie Grünenthal“ in Stolberg bei Aachen gelingt es, den Wirkstoff Thalidomid herzustellen, der später in Deutschland als Beruhigungs- und Schlafmittel „Contergan“ vertrieben wird.

1. Oktober 1957: Contergan kommt auf den Markt.

1959: Der Hersteller erhält Berichte über schwere Nervenschädigungen bei älteren Personen, die längere Zeit Contergan eingenommen hatten.

1960: Die Deutsche Gesellschaft für Kinderheilkunde wundert sich über ein neues „Syndrom“: Auffällig viele Kinder werden mit Missbildungen geboren.

18. November 1961: Der Hamburger Kinderarzt und Humangenetiker Widukind Lenz äußert auf einer Tagung erstmals den Verdacht, dass „ein bestimmtes Medikament, das in 17 von 20 Anamnesen auftauchte, ursächlich verantwortlich sein könnte“. Wenige Tage zuvor hatte der Mediziner die Firma Grünenthal informiert und sie aufgefordert, die Thalidomid-Produkte vom Markt zu nehmen.

27. November 1961: Contergan wird vom Markt genommen.

1968: Mitarbeiter von Grünenthal werden wegen fahrlässiger und vorsätzlicher Körperverletzung, zum Teil mit Todesfolge, angeklagt.

10. April 1970: Vergleich vor Gericht: „Chemie Grünenthal“ will einmalig 100 Millionen Mark zur Verfügung stellen, falls im Gegenzug die Betroffenen auf ihre Forderungen verzichten. Die Summe wird in die Stiftung „Hilfswerk für behinderte Kinder“ eingezahlt.

18. Dezember 1970: Der Strafprozess gegen den Inhaber Hermann Wirtz und acht leitende Angestellte des Contergan-Herstellers Grünenthal wird nach 283 Verhandlungstagen unter anderem wegen geringer Schuld vom Landgericht Aachen eingestellt.

Mai 1997: Die Einzahlungen in die Opferstiftung sind aufgebraucht. Es folgt ein Streit über die Neugründung der Stiftung mit Blick auf Gewinne des Unternehmens und das Vermögen der Inhaberfamilie Wirtz.

Juli 1998: Thalidomid darf in den USA als Heilmittel verabreicht werden. In den 50er-Jahren erhielt es hier keine Zulassung.

19. Oktober 2005: Das „Gesetz über die Conterganstiftung für behinderte Menschen“ (Conterganstiftungsgesetz) tritt in Kraft.

Februar 2006: Ein Koblenzer Apotheker stellt für Krebspatienten ohne Hoffnung die frühere Skandal-Arznei in kleinen Mengen her.

7. und 8. November 2007: Der ARD-Film „Eine einzige Tablette“ beleuchtet das Contergan-Thema. Hersteller Grünenthal versucht, mit Klagen gegen den WDR die Ausstrahlung wegen Verletzung von Persönlichkeitsrechten zu verhindern – vergeblich.

Mai 2008: Der Bundestag beschließt eine Verdoppelung der Entschädigungszahlungen für Contergan-Opfer.