Kiew

Ukraine-Konflikt: Der verborgene Krieg in Kiew

Verloren wirkt dieser kleine Junge in einem Flüchtlingslager im Kiewer Stadtteil Vydubychy. 5000 Menschen haben dort seit dem Beginn des Konflikts im Osten der Ukraine gelebt – manche nur für wenige Wochen, manche über Monate. Aber: Das Lager liegt in einem Außenbezirk. Im Kiewer Stadtzentrum ist von der Not der Flüchtlinge wenig zu spüren.
Verloren wirkt dieser kleine Junge in einem Flüchtlingslager im Kiewer Stadtteil Vydubychy. 5000 Menschen haben dort seit dem Beginn des Konflikts im Osten der Ukraine gelebt – manche nur für wenige Wochen, manche über Monate. Aber: Das Lager liegt in einem Außenbezirk. Im Kiewer Stadtzentrum ist von der Not der Flüchtlinge wenig zu spüren. Foto: Angela Kauer

Über der stillgelegten Fabrik im Kiewer Stadtteil Vydubychy hängt beißender Rauch. Zwei Frauen rühren über offenem Feuer in großen Töpfen. Auf dem grauen Boden liegt zwischen Pfützen grellbuntes Kinderspielzeug. Unter einem Dach aus Stahlbeton duckt sich ein fensterloser Hangar. Im Inneren reihen sich Hochbetten aneinander, durch Spanplatten und Tücher abgetrennt.

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Unsere Redakteurin Angela Kauer hat eine Woche lang in Kiew recherchiert. Die Reise dorthin erfolgte auf Einladung der EU-Kommission.

Verloren wirkt dieser kleine Junge in einem Flüchtlingslager im Kiewer Stadtteil Vydubychy. 5000 Menschen haben dort seit dem Beginn des Konflikts im Osten der Ukraine gelebt – manche nur für wenige Wochen, manche über Monate. Aber: Das Lager liegt in einem Außenbezirk. Im Kiewer Stadtzentrum ist von der Not der Flüchtlinge wenig zu spüren.

Angela Kauer

Musste Lugansk verlassen: Russischlehrerin Yelena Yurchenko.

Angela Kauer

Aufgeräumt: Auf dem Maidan im Zenrum Kiews scheint das Schicksal der Flüchtlinge unendlich weit weg.

Angela Kauer

Versucht zu helfen: Natalie Udarenko von der Organisation „Vostok SOS“.

Angela Kauer

Hier leben sie, die Flüchtlinge aus der Region Donbass, dem umkämpften Osten der Ukraine. 150 sind es im Moment. Ungefähr. So genau kann das niemand sagen. 5000, heißt es, wurden seit Beginn der Kämpfe im Sommer hier durchgeschleust – nur durch dieses eine Lager, das eine evangelikale Freikirche organisiert. Insgesamt gelten laut den Vereinten Nationen 300 000 Menschen in der Ukraine als sogenannte Binnenflüchtlinge – Geflohene im eigenen Land. 30 000 von ihnen sind offiziell in Kiew gemeldet.

„Wir hielten es nicht mehr aus“

Als Yelena Yurchenko Lugansk im Juli verließ, dachte sie, es wäre nur für ein paar Wochen. „Mein Sohn hat mich überredet“, sagt die schmale 43-Jährige. Die Bomben, die nachts auf die Häuser fielen, die Schüsse, die Angst: „Wir hielten es nicht mehr aus.“ Jetzt steht die Frau, die in ihrer Heimatstadt als Russischlehrerin an der Staatlichen Medizinischen Universität gearbeitet hat, im Versorgungszelt des Lagers in Vydubychy. Hinter ihr schneiden sie Gemüse für das Mittagessen. Der Wind fährt unters Zeltdach, Yelena zieht Kapuze und Mütze tiefer ins Gesicht.

Bisher, sagt sie, sei es hier „ganz okay“ gewesen. Bisher war aber auch Sommer. Und sie hatte die Hoffnung, schnell wieder nach Lugansk zurückzukehren. Schließlich ist ihre Mutter noch dort. Und ihre Schwester. Doch ein heimlicher Besuch bei den Dagebliebenen hat ihre Hoffnung zerschlagen. Yelena berichtet von patrouillierenden Separatisten und russischen Flaggen, von Gebäuden, die mit Einschüssen übersät sind, und von der verheerenden Versorgungslage. Ihre Verwandten sind auf Nahrungsmittellieferungen von Hilfsorganisationen angewiesen, oft gibt es tagelang keinen Strom und kein Wasser. Yelena, die sich so sehr wünscht, dass die Ukraine eine Einheit bleibt, sagt: „Wir können nicht mehr dorthin.“ Im Lager bleiben will sie aber auch nicht. Eine Wohnung muss her und eine Arbeit – bevor der Winter kommt. Wo sie Hilfe bekommen soll, weiß sie nicht. „Ich habe keine Freunde, keine Familie in Kiew.“

Das Schicksal der Flüchtlinge – nur wenige Kilometer weiter, im Zentrum der Stadt, scheint es unendlich weit weg. Bürgermeister Vitali Klitschko hat aufgeräumt. Auf dem Maidan, dem Unabhängigkeitsplatz, ist nichts mehr zu sehen von der Revolution, die im Februar zum Sturz der Regierung des Moskau-treuen Viktor Janukowitsch führte. Keine Zelte und Hütten, keine Schilder und schon gar keine Demonstranten. Einzig ein paar Fotos sind geblieben. Sie zeigen die „Himmlischen Hundert“, jene, die bei den Protesten ihr Leben verloren – wie, ist noch immer ungeklärt. Der Verkehr fließt ungebremst an diesen Bildern vorbei, über die sechsspurige Straße, die den Unabhängigkeitsplatz quert. Menschen verkaufen Kaffee aus Autos. Paare treffen sich. Zu erkennen sind sie an einer einzelnen Rose. Die bringt man hier mit, beim ersten Kennenlernen.

Krieg? Welcher Krieg?

Mehr als sieben Stunden Autofahrt sind es von der so europäisch wirkenden Hauptstadt in die Region Donbass. Nein, sie denke nicht jeden Tag nach dem Aufstehen daran, was dort los ist, sagt Krystyna Abramovska. Jedenfalls nicht direkt. Die 40 Jahre alte Journalistin lebt mit ihrem Freund und der kleinen Tochter nur wenige Hundert Meter vom Maidan entfernt. Was die Menschen, was sie denn dann bewegt? „Alle sprechen von der bald kommenden Kälte“, sagt Krystyna. Die Hauptstädter sorgen sich, ob das Gas über den Winter reicht und ihre Wohnungen warm bleiben. Der Gasverbrauch der Ukrainer ist irrsinnig hoch. Das Heizungssystem lässt keine Möglichkeit, die Temperatur in den Wohnungen selbst zu regulieren. Stattdessen wird über zentrale Kraftwerke aus Sowjetzeiten die Wärme im Oktober an und im Frühjahr wieder ausgestellt. Wichtigster Gaslieferant der Ukraine war Russland – bis Mitte Juni. Dann wurden die Lieferungen eingestellt. Da gibt es zwar diesen von der EU ausgehandelten Kompromiss, das „Winterpaket“, um über die kalte Jahreszeit zu kommen. Damit die Ukraine wieder Gas von Russland bekommt, muss sie aber erst einen Teil ihrer Milliardenschulden begleichen und Vorauszahlungen leisten. Statt darauf zu vertrauen, kauften die Leute lieber elektrische Öfen, erzählt Krystyna. Die Furcht vor Engpässen grassiert.

Es mangelt an Gas

Klitschko, der Bürgermeister, kann sie den Kiewern nicht nehmen. „Was von mir abhängt, kann ich machen. Aber wir benötigen dringend Gas“, sagt er im frisch getünchten Prunksaal seines Rathauses und sieht die Verantwortung bei der Regierung des Landes. Seine Bürger sehen das anders. Hinter vorgehaltener Hand sagen viele über den Boxweltmeister im Ruhestand, der blitzsaubere Maidan sei das Einzige, was er in den bislang knapp vier Monaten seiner Amtszeit zustande gebracht habe. Und tatsächlich: Auf seine Erfolge angesprochen, nennt er zuerst den Platz – und dann den Wiederaufbau des „ruinierten Rathauses“. Gern spricht er außerdem über die „Welle des Patriotismus“, die das Land nach den Protesten auf dem Maidan erfasst habe, und von seinem Kampf gegen die Korruption in der Verwaltung.

In der Flüchtlingsfrage wirkt der Hüne hilflos. „Es gibt viele Probleme, aber wir sammeln Geld. Wir tun, was wir können“, sagt er. Und ja, wahrscheinlich seien deutlich mehr als die 30.000 offiziell gemeldeten Flüchtlinge in der Stadt. „Wir schätzen, es sind 70.000.“

Behörden scheinen überfordert

Von einer Zahl, die doppelt, wenn nicht gar dreimal so hoch ist, spricht Natalie Udarenko von der Hilfsorganisation „Vostok SOS“ („Osten SOS“). Die ukrainischen Behörden scheinen überfordert davon, dass es in ihrem Land plötzlich Flüchtlinge gibt. Unterstützungsprogramme der Regierung laufen nur schwerfällig an. Ohne das Engagement von Hilfswerken und christlichen oder privaten Initiativen würde die Versorgung der Vertriebenen nicht funktionieren.

„Vostok SOS“ sitzt in einem grünen Hinterhaus in der Kiewer Innenstadt, zwischen einem Erotikshop und einem Buch- und Plattenladen. Etwa 30 Helfer arbeiten in der zum Büro umfunktionierten Wohnung. Um Natalie herum drängen sie sich an ein paar Schreibtischen, schauen auf Laptops, telefonieren. Oft bekommen sie hier Anrufe direkt aus dem Kampfgebiet. „Dann erkundigen wir uns, wo genau die Leute sich aufhalten, und versuchen, sie über Hilfsorganisationen vor Ort dort rauszuholen“, sagt Natalie.

Neben der konkreten Fluchthilfe geht es hier vor allem um die Vermittlung von Wohnungen. Wenn ein Flüchtling anruft und nach einer neuen Bleibe für sich oder gleich seine ganze Familie fragt, hilft die Datenbank von „Vostok SOS“ weiter. Hier können sich Freiwillige registrieren, die Wohnungen, Zimmer oder nur ein Sofa anzubieten haben. „Wir vermitteln diese Unterkünfte und sind immer auf der Suche nach neuen“, sagt Natalie.

„Ich muss dabei sein…“

Die 29-Jährige ist eigentlich Innenarchitektin, hat in Berlin und in der Schweiz gearbeitet. Dann kamen die Maidan-Proteste, und sie entschied: Ich muss dabei sein, wenn sich in der Ukraine etwas bewegen soll. Also demonstrierte sie. Später, als der Konflikt im Osten immer mehr Menschen in die Flucht trieb, entschied sie: Ich muss etwas tun. Als Kiewerin ist Natalie bei „Vostok SOS“ eine Ausnahme. Die meisten anderen, die hier am Telefon oder am Laptop sitzen, sind selbst geflüchtet und versuchen nun, ihren Schicksalsgenossen zu helfen. 11 000-mal, sagen sie, hat das seit Mai geklappt.

11.000, das ist eine große Zahl. Doch nicht immer finden die, die Hilfe anbieten, und die, die sie brauchen, auf Anhieb zusammen. Das wird deutlich, als die Sprache auf das Lager in Vydubychy kommt. Natalie zuckt mit den Schultern. Von dem Hangar am Rande der Stadt hört sie zum ersten Mal. Eigentlich müssten Russischlehrerin Yelena und die anderen dort von „Vostok SOS“ wissen und könnten sich melden, wenn sie eine andere Unterkunft wollten. „Weshalb sie das nicht tun, weiß ich nicht“, sagt Natalie. Sie lächelt müde – und notiert sich rasch einige Namen.