Jerusalem

Sind „Bibis“ Tage als Premier gezählt?

Benjamin Netanjahu
Israels Ministerpräsident Benjamin Netanjahu bei seiner umstrittenen Rede im US-Kongress. Foto:  Michael Reynolds

Israel biegt auf die Zielgerade des Wahlkampfs ein. Die Prognosen sagen ein Kopf-anKopf-Rennen zwischen Benjamin „Bibi“ Netanjahu vom konservativen Likud-Block und Isaac Herzog vom Zionistischen Lager voraus. Sind die Tage von Netanjahu als Premier gezählt?

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Und könnte ein Regierungswechsel dem festgefahrenen Friedensprozess neuen Schwung verleihen? Wir sprachen mit dem ehemaligen Chefredakteur des Ersten israelischen Fernsehens, David Witzthum, über den Stellenwert der Wahl und die Themen, die die Israelis bewegen.

Premierminister Benjamin Netanjahu war zuletzt in zahlreiche Skandale verwickelt. Außenminister Avigdor Liebermann von der ultranationalen Partei Israel Beitenu, die die Interessen der russlandstämmigen Israelis vertritt, fiel immer wieder mit Ausfällen gegenüber der arabischen Bevölkerung auf. Haben die Israelis ihre Regierung satt?

Ja, aber es sind nicht so sehr die Skandale, die für Wechselstimmung sorgen, sondern Netanjahus zunehmende Arroganz und Überheblichkeit. Und Liebermann hat deutlich an Anziehungskraft in der russischstämmigen Bevölkerung verloren, weil viele längst in die Gesellschaft integriert sind.

David Witzthum war lange Chefredakteur des Ersten israelischen Fernsehens
Foto: Dirk Eberz

Der Urnengang gilt auch als Richtungswahl zwischen einem zionistisch-demokratischen und einem nationalreligiös-jüdischen Israel. Könnte ein Sieg Herzogs den Friedensprozess neu beleben?

Das kann man noch nicht genau sagen. Selbst wenn Herzog und Livni mehr Stimmen als Netanjahu erhalten, sind sie auf Koalitionspartner angewiesen. Und die sind weit zögerlicher als das Zionistische Lager. Zudem hat der Konflikt mit den Palästinensern keine Priorität im Wahlkampf. Wichtiger sind innenpolitische Themen wie Wohnungsnot, steigende Mieten und das marode Gesundheitswesen.

Hat die Regierung Netanjahu dringende Investitionen in den sozialen Bereich zugunsten ihrer Siedlungspolitik unterlassen?

Natürlich. Das Geld fließt aber nicht nur in die Siedlungen in der Westbank, sondern auch an die Wähler ultraorthodoxer Parteien. Die israelische Mittelklasse hat Netanjahu stark vernachlässigt. Es fehlen etwa 50 000 Wohnungen. Und die Mieten sind in den vergangenen Jahren um mehr als 30 Prozent in die Höhe geschnellt.

Auch die Lasten sind höchst ungleich verteilt. Ultraorthodoxe etwa zahlen nicht nur wenig Steuern, sondern müssen auch keinen Militärdienst leisten. Könnte sich daran unter einer Regierung Herzog-Livni etwas ändern?

Nein, umgekehrt. In diese Richtung wird sich wohl nichts bewegen. Denn das Zionistische Lager wird im Falle eines Wahlsiegs auf die Stimmen der Ultraorthodoxen angewiesen sein. Ich bin mir sicher, dass sie auch in der nächsten Regierung vertreten sein werden.

Überhaupt scheinen die beiden alten ideologischen Blöcke Likud und Arbeitspartei immer mehr zugunsten von kleinen Klientelparteien, die für ihre Wähler dann in den Koalitionsverhandlungen die Hände aufhalten, zu bröckeln. Neben den Ultraorthodoxen sind das etwa die Russen, die Orientalen oder die Siedler. Gefährdet die Entwicklung nicht die Stabilität des Landes?

Nein, im Gegenteil. Gerade die ideologische Kluft sorgt ja oft für Instabilität. Die kleinen Parteien sind aber gar nicht auf Konfrontation und Opposition aus. Sie wollen in die Regierung. Ob mit Netanjahu oder Herzog. Und dafür fordern sie eben Geld. Meist sind das dann recht stabile Regierungen.

Aufgrund der Bedrohungslage lieben die Israelis ja starke Führungspersönlichkeiten. Am besten mit militärischem Hintergrund. Nun wirkt Herzog aber eher zaghaft. Ein Kommentator lästerte, dass seine Stimme wie die einer „überfahrenen Schildkröte“ klingt. Hat er da gegen den polternden Platzhirsch Netanjahu überhaupt eine Chance?

Das ist die große Frage. Aber in den jüngsten Umfragen, wer der beste Premierminister wäre, liegt Herzog nur knapp zurück. Das gab es noch nie. Aber ich denke, dass das vor allem die Anti-„Bibi“-Stimmung widerspiegelt. Denn Herzog wird nicht als eine Führungsperson wahrgenommen. Eher als eine gemäßigte Alternative.

Im Windschatten der Großen ging der Chef der ultranationalen Siedlerpartei „Jüdisches Heim“, Naftali Bennett, im Zentrum auf Wählerfang. Könnte er Herzog und Netanjahu die Schau stehlen?

Das bezweifele ich. Er hat versucht, seine Partei in eine Zentrumspartei zu verwandeln. Dazu wollte er sogar einen Fußballspieler marokkanischer Herkunft in die Parteispitze holen. Aber das hat sich zum Bumerang für ihn entwickelt. Seine Umfragewerte sind wieder auf zwölf Mandate zusammengeschmolzen. Das „Jüdische Heim“ ist also eine Klientelpartei religiöser Siedler geblieben.

Und dann gibt es da ja am anderen Ende des politischen Spektrums noch das neu formierte Lager der israelischen Araber, die immerhin rund 21 Prozent der Bevölkerung ausmachen. Könnte dieses kuriose Bündnis aus Kommunisten, Islamisten und Pro-Palästinensern eine Brückenfunktion zu Palästina einnehmen?

Das wollen sie natürlich. Die arabische Liste ist aber auch ein gutes Beispiel für die neue politische Landschaft, in der Ideologien eine immer geringere Rolle spielen. Sie sehen sich aber nicht als Palästinenser, sondern als israelische Araber. Die Regierung in Ramallah in der Westbank ist für sie eher eine Bedrohung als eine Chance. Die israelischen Araber wollen im Land bleiben und nicht etwa in den Palästinenserstaat auswandern, wie es die rechtsradikalen Parteien fordern.

Kommen die Araber als Koalitionspartner des Zionistischen Lagers infrage? Oder hat man sie mit der unglücklichen Namenswahl nicht eher abgeschreckt?

Sicher hat man sie damit abgeschreckt. Die Araber haben ja bereits erklärt, dass sie in der Opposition bleiben werden. Aber es könnte durchaus sein, dass sie eine Minderheitsregierung Herzog-Livni dulden würden.

In kaum einem Land auf der Welt sind die Militärausgaben im Vergleich zum Bruttoinlandsprodukt so hoch wie in Israel. Wie lange kann das Land die enormen Kosten, die damit verbunden sind, noch stemmen?

Das weiß ich nicht. Aber das Militär hat in Israel auch viele andere Aufgaben für die Gesellschaft. So spielt die Armee etwa eine ganz große Rolle in Erziehung und Ausbildung. Zudem hat Militärtechnologie auch ein Stück weit die Basis für die boomende Hightechindustrie gelegt. Das Militär ist somit nicht nur ein Kostenfaktor, sondern spielt auch eine große Rolle in der Wirtschaft. Das ist mit Deutschland gar nicht zu vergleichen. Und dann trägt der drei- oder zweijährige Militärdienst auch nicht unwesentlich zur gemeinsamen Identität der Israelis bei, die ja aus ganz unterschiedlichen Ländern und Milieus stammen: Äthiopier, Russen und Drusen etwa.

Wer hat am Ende die Nase vorn? Wagen Sie eine Prognose.

Das ist sehr schwierig. Denn die beiden großen Blöcke kommen jeweils wohl nur auf rund 25 der insgesamt 120 Sitze in der Knesset. Der Rest verteilt sich auf kleine Parteien. Deshalb ist das alles sehr schwer zu sagen. Bei der letzten Wahl lagen alle Forschungsinstitute total daneben. Aber ich vermute, dass es bei einem Mitte-Rechts-Bündnis bleiben wird. Es könnte aber auch auf eine nationale Einheitsregierung von Zionisten und Likud hinauslaufen. Auch wenn beide Seiten das noch heftig leugnen. Andere Möglichkeiten sehe ich als eher theoretisch.

Das Interview führte Dirk Eberz