Gesundheit: Zu wenig Hilfe für immer mehr seelisch Kranke

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In welche Statistik einer Krankenkasse man derzeit auch schaut: Die Diagnose ist düster. Der Trend zu psychischen Erkrankungen als Hauptursache für Krankmeldungen oder Frühverrentung von Arbeitnehmern ist eklatant.

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Von unserem Redakteur Christian Kunst

Nur einige Zahlen als Beweis: Jede zweite Frühverrentung basiert mittlerweile auf seelischen Nöten der Betroffenen, 2012 ist die Diagnose Depression 62 Prozent häufiger als sechs Jahre zuvor getroffen worden.

1 Der Befund: Dem ständig wachsenden Heer an psychisch Kranken steht jedoch eine relativ kleine Zahl an Therapeuten gegenüber, die über die vergangenen Jahre eher konstant geblieben ist. Laut Bedarfsplanung aus dem Jahr 1999 soll in ländlichen Regionen wie der Vulkaneifel ein Therapeut für 23 000 Einwohner zuständig sein, in einer Großstadt wie Mainz einer für 2600 Bürger. Zwischen diesen beiden Extremen steht ein Verhältnis von 1 zu 10. Erst im vergangenen Jahr hat der Gemeinsame Bundesausschuss beschlossen, dieses Verhältnis auf 1 zu 5 abzuschmelzen, indem sich mehr Psychotherapeuten auf dem Land niederlassen durften.

Für Rheinland-Pfalz bedeutete dies, dass sich in Eifel, Hunsrück und Westerwald 74 neue Therapeuten ansiedeln konnten, berichtet Alfred Kappauf, Chef der Landespsychotherapeutenkammer. Die Zahl der Vollzeitstellen für psychologische Psychotherapeuten sowie Kinder- und Jugendpsychologen wuchs so von 590 auf 660 an. Diese Stellen teilen sich derzeit etwas mehr als 700 Therapeuten. Pro Quartal sind sie zuständig für 32 500 Patienten. Hinzu kommen weitere 150 Stellen für psychotherapeutische Ärzte, also Fachärzte mit einer psychotherapeutischen Zusatzausbildung, die sich pro Quartal um 8000 Patienten kümmern müssen.

2 Die Symptome: Angesichts dieser Zahlen verwundert es wenig, dass Experten wie Alfred Kappauf die derzeitigen Wartezeiten auf eine Therapie mit zwölf Wochen plus X beziffern. Bei einer Umfrage der Kassenärztlichen Vereinigung Rheinland-Pfalz gaben 2011 rund 55 Prozent der Therapeuten an, dass bei ihnen die Wartezeit bis zu zehn Wochen beträgt, bei weiteren 37 Prozent waren es mehr als elf Wochen; 8 Prozent hatten überhaupt keine freien Plätze. Die Folge: Immer wieder kommt es bei Akutfällen zu „6-Minuten-Kontakten“ durch Psychiater, die den Patienten nicht gerecht werden.

Gerade erst hat die Bertelsmann-Stiftung dem deutschen Behandlungssystem ein erschreckend schlechtes Zeugnis erteilt: 26 Prozent der Patient mit schweren Depressionen erhalten demnach keine angemessene Therapie – das wäre eine Kombination aus Psychotherapie und der Einnahme von Antidepressiva. Viele Schwerkranke erhalten ausschließlich Medikamente. Kein Wunder, wenn ein Therapeut kaum verfügbar ist. Noch schlimmer: Der Großteil der Patienten erhält keine oder nur eine kurze Therapie.

„Letztendlich wird so eine Chronifizierung der Depression unterstützt“, sagt Kappauf. Die Folgen können für die Patienten gravierend sein, berichtet der Autor der Bertelsmann-Studie, der Direktor der Poliklinik für Medizinische Psychologie an der Uniklinik Hamburg-Eppendorf. Demnach nimmt sich im Schnitt jeder siebte schwer Depressive das Leben.

In Rheinland-Pfalz ist die Situation sogar noch schlechter als im Bundesschnitt: Nur 24,2 Prozent der schwer Depressiven bekommen hierzulande eine angemessene Therapie. Das ist Platz neun in Deutschland. Zum Vergleich: Beim Spitzenreiter NRW sind es 30,2 Prozent, in Hessen 28,7 Prozent, beim Schlusslicht Saarland allerdings nur 19,5 Prozent. Schon im Jahr 2010 ist die Kassenärztliche Vereinigung in ihrem Versorgungsatlas zu dem Ergebnis gekommen, dass nur 37 Prozent aller depressiv Kranken im Land von Facharzt behandelt werden. 25 Prozent von ihnen erhalten lediglich Antidepressiva, 37 Prozent überhaupt keine Behandlung.

3 Die Therapie: „In keinem anderen Bereich würde man Medizin so organisieren wie bei der Psychotherapie. Es ist keine Akuttherapie oder eine Behandlung von chronisch Kranken vorgesehen“, kritisiert Kappauf. Sichtbarstes Zeichen dafür ist für ihn, dass ein Patient, nachdem er seine maximale Stundenzahl an Therapie bekommen hat, zwei Jahre warten muss, ehe seine Krankenkasse eine neue Behandlung bezahlt. Dies müsse dringend geändert werden.

Hinzu kommt, dass sich derzeit fünf verschiedene Arztgruppen um die Behandlung psychisch Kranker kümmern (siehe Übersicht unten). „Das sind zum großen Teil parallele Versorgungsstrukturen, die mehr miteinander verkoppelt werden müssen.“ Und die verschiedenen Ärzte haben sogar ein unterschiedliches Verständnis von seelischen Krankheiten, berichtet Kappauf. Beispiel Psychosen: „In der Theorie der Richtlinien sind diese rein organisch bedingt und gelten daher als nicht therapierbar. Die Praxis zeigt aber längst, dass eine Therapie sehr wohl etwas bewirken kann.“

Auch bei Depressionen sei längst erwiesen, dass von der leichten bis zur schweren Ausprägung eine Therapie die beste Lösung ist. Bei schweren Depressionen würde zwar eine Kombination mit Medikamenten empfohlen, die Pillen wirkten jedoch oft nur als ein Placebo-Effekt. Doch Pillen bleiben oft die einfachste und schnellste Möglichkeit, seelische Krankheiten zu behandeln

Pillen dürfen Psychotherapeuten allerdings nicht verordnen. Dies machen meist die Hausärzte. Dabei sollte es auch bleiben, sagt Kappauf. Doch oft würde der Hausarzt oder Psychiater die Dosis der Pillen ohne Rücksprache mit dem Therapeuten verändern. Deshalb fordert der Verbandschef neue Versorgungsmodelle, bei denen Therapeuten und Hausärzte zusammenarbeiten. Hierzu gibt es laut Kappauf bereits Gespräche mit den Kassen. Doch die würden bis heute bestreiten, dass es im Land zu wenig Therapiemöglichkeiten gibt.

Andererseits wünscht sich Kappauf aber auch mehr Kompetenzen für die Therapeuten: Sie müssten das Recht erhalten, Patienten krankzuschreiben und in eine Klinik einzuweisen. Diese Forderungen dürften bei den niedergelassenen Ärzten auf wenig Gegenliebe stoßen. Wie gering die Lobby der Therapeuten bei der übrigen Ärzteschaft ist, bekommt Alfred Kappauf regelmäßig zu spüren, wenn es um die Honorarverteilung geht.

„Unsere Honorare liegen bis heute ein Drittel unter den am schlechtesten bezahlten Ärzten.“ 2013 gab es für die Ärzte im Land ein Honorarplus von 5 Prozent, die Therapeuten bekamen nur 0,9 Prozent mehr. Zwar haben die psychologischen Psychotherapeuten 10 Prozent der Stimmen in der Vertreterversammlung der Kassenärztlichen Vereinigung – und stellen damit nach den Hausärzten die zweitstärkste Fraktion. „Doch wenn es um unsere Honorare, sind sich alle anderen einig.“