Berlin

Gauck: Auschwitz bleibt ein quälender Bruch

Gedenken in Auschwitz: Der Überlebende des Konzentrationslagers Miroslaw Celka schreitet durch das Tor zur Gedenkfeier der Befreiung durch die Sowjetarmee vor 70 Jahren. In Auschwitz wurden mehr als eine Million Menschen systematisch ermordet. Seit zehn Jahren erinnern auch die Vereinten Nationen am 27. Januar an die Verbrechen der Nationalsozialisten. 
Gedenken in Auschwitz: Der Überlebende des Konzentrationslagers Miroslaw Celka schreitet durch das Tor zur Gedenkfeier der Befreiung durch die Sowjetarmee vor 70 Jahren. In Auschwitz wurden mehr als eine Million Menschen systematisch ermordet. Seit zehn Jahren erinnern auch die Vereinten Nationen am 27. Januar an die Verbrechen der Nationalsozialisten.  Foto: afp

Bundespräsident Joachim Gauck hat bei der Gedenkstunde der Befreiung des Vernichtungslagers Auschwitz im Bundestag keine einfache Aufgabe. Bisher hatten im Bundestag am 27. Januar meist Überlebende und Widerstandskämpfer damit beeindruckt, dass sie ihre Geschichte erzählten. Im Jahr 2015 ist Gauck selbst Hauptredner des Gedenkens. „Es gibt keine deutsche Identität ohne Auschwitz“, stellt der 75-Jährige klar. Spontan brandet Beifall auf.

Lesezeit: 3 Minuten
Anzeige

Von unserer Berliner Korrespondentin Rena Lehmann

Gedenken in Auschwitz: Der Überlebende des Konzentrationslagers Miroslaw Celka schreitet durch das Tor zur Gedenkfeier der Befreiung durch die Sowjetarmee vor 70 Jahren. In Auschwitz wurden mehr als eine Million Menschen systematisch ermordet. Seit zehn Jahren erinnern auch die Vereinten Nationen am 27. Januar an die Verbrechen der Nationalsozialisten.

afp

Gedenken im ehemaligen Konzentrationslager Auschwitz-Birkenau.

Andrzej Grygiel

Bundespräsident Gauck spricht im Bundestag. Auch Auschwitz-Überlebende nahmen an der Gedenkstunde teil.

Wolfgang Kumm

«Arbeit macht frei» steht über dem Eingang zum Lager – eine zynische Parole: In Auschwitz wurden mehr als 1,1 Millionen Menschen ermordet.

Eva Krafczyk

In dem NS-Vernichtungslager waren mehr als 1,1 Millionen Menschen ermordet worden.

Rolf Vennenbernd

Blumen liegen auf einer Stele des Holocaust-Mahnmals in Berlin. Vor 70 Jahren befreite die Sowjetarmee das NS-Vernichtungslager Auschwitz.

Bernd von Jutrczenka

Bundespräsident Gauck (l-r), Bundeskanzlerin Merkel und der Präsident des Bundesverfassungsgerichts, Voßkuhle, während der Gedenkstunde des Bundestages.

Wolfgang Kumm

Hier wurden die Gefangenen entladen, im Hintergrund sieht man den Eingang zum Lager.

Auschwitz-Birkenau State Museum/Pawel Sawicki

70 Jahre nach der Befreiung durch die sowjetische Armee wird im ehemaligen NS-Vernichtungslager Auschwitz der Opfer des Holocaust gedacht.

Rolf Vennenbernd

Auschwitz-Überlebende nehmen an einer Gedenkfeier zum 70. Jahrestag der lagerbefreiung im polnischen Oswiecim teil.

Rolf Vennenbernd

Blick in die Baracken des ehemaligen Vernichtungslagers: Die Menschen wurden hier unter elenden Bedingungen eingepfercht.

Auschwitz-Birkenau State Museum/Pawel Sawicki

Wachturm in Auschwitz-Birkenau.

Rolf Vennenbernd

Auch US-Regisseur Steven Spielberg besuchte die Gedenkfeier in Oswiecim.

Andrzej Grygiel

Bundespräsident Joachim Gauck: «Die Erinnerung an den Holocaust bleibt eine Sache aller Bürger, die in Deutschland leben.»

Wolfgang Kumm

Überlebende des Holocausts stehen vor dem Konzentrationslager Auschwitz.

Rolf Vennenbernd

81 Prozent der Deutschen möchten die Geschichte der Judenverfolgung einer aktuellen Bertelsmann-Studie zufolge hinter sich lassen. Sowohl Gauck als auch Bundestagspräsident Norbert Lammert erteilen diesem Wunsch eine Absage. Mit einem persönlichen Bekenntnis erklärt Gauck die zeitlose Bedeutung von Auschwitz. „Solange ich lebe, werde ich dar-unter leiden, dass die deutsche Nation mit ihrer so achtenswerten Kultur zu den ungeheuerlichsten Menschheitsverbrechen fähig war“, sagt er nachdrücklich. Selbst eine „überzeugende Deutung des Kulturbruchs“ wäre nicht imstande, „mein Herz und meinen Verstand zur Ruhe zu bringen“. Gauck fährt fort: „Da ist ein Bruch eingewebt in die Textur unserer nationalen Identität, der im Bewusstsein quälend lebendig bleibt.“ Wer „in der Wahrheit“ leben wollte, so sagt es Gauck, wird dies niemals leugnen. Das Ritual des Auschwitz-Gedenkens ist von Routine bis heute weit entfernt.

Die meisten Deutschen wollen sich nicht mehr erinnern – Gauck widerspricht

70 Jahre nach der Befreiung des Lagers durch die sowjetische Armee ist das Parlament zu der Sondersitzung zusammengekommen. Die Besucherränge sind gefüllt. Viele Besucher tragen die traditionelle Kippa.

Gauck leitet aus der Vergangenheit eine moralische Pflicht für die Gegenwart ab. „Schützt und bewahrt die Mitmenschlichkeit. Schützt und bewahrt die Rechte eines jeden Menschen“, fordert er. Dies gilt aus seiner Sicht „gerade in Zeiten, in denen wir uns in Deutschland erneut auf das Miteinander unterschiedlicher Kulturen und Religionen zu verständigen haben“.

„Quartett für das Ende der Zeit“ wurde im Lager uraufgeführt

Auch Bundestagspräsident Lammert stellt in seiner Begrüßung fest, dass die Nachgeborenen zwar nicht „für die schreckliche Vergangenheit unseres Landes verantwortlich sind“. Für den Umgang mit ihr aber schon. Die Erinnerung an den Holocaust ist aus seiner Sicht heute von „universeller Bedeutung“. Trotzdem haben die Deutschen aus seiner Sicht eine „ganz besondere Verantwortung für das Schicksal der Juden und unser Verhältnis zum Staat Israel“. Bevor Gauck spricht, spielt ein Klarinettist einen Satz aus dem „Quartett für das Ende der Zeit“ von Olivier Messiaen, das 1940 von Kriegsgefangenen im Lager von Görlitz uraufgeführt wurde. Der sonst hektische Parlamentsbetrieb hält für einen Moment gemeinschaftlich inne.

Gauck vollzieht auch die lange Geschichte der Aufarbeitung nach. „Gedenktage führen eine Gesellschaft zusammen in der Reflexion über die gemeinsame Geschichte“, sagt er. Der Bundespräsident wählt deutliche Worte. Er nennt es „beschämend, dass aus den Opfern von einst“ in der Nachkriegszeit „Bittsteller“ wurden. „Die Bevölkerung der jungen Bundesrepublik kannte wenig Mitgefühl mit den Opfern nationalsozialistischer Gewalt“, sagt er. Erst in den 70er-Jahren lernten die Westdeutschen langsam zu akzeptieren, „dass es auch ganz normale Männer und Frauen gewesen waren, die ihre Menschlichkeit, ihr Gewissen und ihre Moral verloren hatten“. Die DDR dagegen hätte vielen Schuldigen die kritische Selbstreflektion erspart, weil sie sich nicht als Nachfolgestaat der NS-Diktatur verstand.

Die Gefahr der Routine

Gauck weiß um die Gefahr der Routine. „Gedenktage können zu einem Ritual erstarren, zu einer leeren Hülle, gefüllt mit den stets gleichen Beschwörungsformeln“, warnt er. Er fragt provozierend, ob Deutschland imstande wäre, derartige Verbrechen heute zu beenden und zu ahnden. Der oft nach Auschwitz zitierte Ausspruch „Nie wieder“ bleibt aus seiner Sicht trotz der empfundenen Ohnmacht „als innerer Kompass“ unverzichtbar.