São Paulo

Gastland: Brasiliens neue kritische Stimmen

Wochenlange Massenproteste erschüttern das Land, und ehemalige Minister stehen wegen Korruption vor Gericht. Dass Brasilien ein Land im Umbruch ist, spiegelt sich auch in der Literatur wider.

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Von Susann Kreuzmann

„Ein neues politisches Bewusstsein macht sich breit“, sagt der Literaturwissenschaftler und Übersetzer Timo Berger, der die Anthologie „Popcorn unterm Zuckerhut“ herausgab. Als Gastland der Frankfurter Buchmesse präsentiert sich Brasilien vom 9. bis 13. Oktober mit rund 90 Autoren in einer großen Vielfalt. 7 Millionen Euro kostet der Auftritt.

Die brasilianische Literatur ist zu einem Sprachrohr der kritischen Mittelklasse geworden. Zu den wichtigsten Stimmen gehört der Schriftsteller Luiz Ruffato, der bei der Eröffnung der Buchmesse sprechen wird.

Wie viele Künstler unterstützt er die Demonstrationen, die diesen Sommer das ganze Land erfassten. Auch in seinen Werken thematisiert er Gewalt, Korruption und soziale Missstände. „Wir haben in Brasilien eine extrem ungerechte Gesellschaft. Wir sind eines der Länder mit den meisten Millionären“, beschreibt Ruffato.

Die Elite übernehme aber keinerlei Verantwortung für das Land, das unter einem schlechten Bildungssystem, einer maroden Gesundheitsversorgung und einer mangelnden öffentlichen Sicherheit stöhne. Ruffato schildert in seinen Romanen das Leben einfacher Leute, das er aus eigener Erfahrung kennt. Seine Mutter war Wäscherin und Analphabetin, sein Vater ein fliegender Händler. Immer wieder betont der 52-Jährige, der bis vor ein paar Jahren noch als Journalist arbeitete, die politische Funktion von Literatur.

„Wenn Literatur mich ändern kann, kann sie auch andere Menschen und die Gesellschaft ändern“, ist er überzeugt. Sein bisher erfolgreichster Roman „Es waren viele Pferde“ wird auf der Buchmesse vorgestellt. Zu den neuen Stimmen Brasiliens gehört auch Patrícia Melo, die auf der Buchmesse den LiBeraturpreis erhält und in ihren Krimis die Gewalt in den Großstädten beschreibt. João Paulo Cuenca gehört zu den „39 wichtigsten lateinamerikanischen Schriftstellern unter 39“.

Mit seinem Roman „Das einzig glückliche Ende einer Liebesgeschichte ist ein Unfall“ beschreibt er seinen Aufenthalt in Tokio und landete prompt einen Bestseller. Übersetzer Timo Berger spricht von einer neuen Dynamik unter den jungen Autoren, die zum Selbstbewusstsein ihres Landes passt, das gerade vom unbedeutenden Außenseiter zu einer Weltmacht aufsteigt.

Doch es gibt auch Kritik. So befürchtet der Journalist und Schriftsteller José Castello, dass sich junge Autoren zu sehr von internationalen Erwartungen beeinflussen lassen, wie Brasilien zu sein hat. „In der Zeit von Jorge Amado standen die Mulattin und der Candomblé im Mittelpunkt“, sagt Castello über die sexy Frauen und afro-brasilianischen Kulte, die beim weltberühmten Volksautor Amado (1912–2001) nicht wegzudenken waren.

„Heute sind es die Gewalt in der Stadt, Drogenhandel und eine Rebellion ohne Richtung, die sich mit Langeweile vermischt.“ Castello wünscht sich das typisch Brasilianische zurück, nicht nur eine kosmopolitische Literatur. Amado war Ende der 60er-Jahre zu Weltruhm gelangt. In den 80er-Jahren landete Paulo Coelho („Der Alchimist“) mit seinen mystisch geprägten Werken auf den Bestsellerlisten.

Beide prägten lange das Bild der brasilianischen Literatur im Ausland, die jedoch aus dem Blick der internationalen Öffentlichkeit verschwand. Erst 1994, als Brasilien schon einmal Gastland der Frankfurter Buchmesse war, erwachte ein neues Interesse. In Brasilien selbst hat es Literatur trotz des riesigen Marktes mit fast 200 Millionen Einwohnern und einer wachsenden Mittelschicht schwer.

Das Land gehört zwar zu den zehn weltweit größten Buchproduzenten. Hauptabnehmer ist aber der Staat, der Schulen und Bibliotheken kostenlos mit Lehrmaterial versorgt. Vor allem in den großen Metropolen Rio und São Paulo leben die Leser – nicht mal die Hälfte der mehr als 200 Millionen Einwohner wird offiziell zum Lesepublikum gezählt. Brasiliens Buchmarkt, der für etwa die Hälfte der Buchproduktion Lateinamerikas steht, wächst dank des Bildungsbooms kräftig.

Rund 700 Verlage erwirtschaften jährlich einen Umsatz von an die 2 Milliarden Euro. Im Vergleich zum Leseland Deutschland (rund 10 Milliarden Euro) ist das immer noch bescheiden.