Ein Jahr im Amt: Franziskus, der große Reformer?

Aufmacher Foto: picture alliance

Seit einem Jahr ist die katholische Kirche im Franziskus-Fieber: Am 13. März 2013 trat Jorge Mario Bergoglio zum ersten Mal als Papst vor die Welt, wünschte einen freundlichen „Guten Abend“ und einen guten Nachhauseweg, betete gemeinsam mit den Gläubigen auf dem Petersplatz und verzauberte die Menschen in Rom und an den Bildschirmen innerhalb weniger Minuten. Wie ein Messias, ein Heilsbringer, wird Franziskus seither gefeiert – zu Recht?

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Von unserem Redakteur Michael Defrancesco

Nach einem Jahr lässt sich tatsächlich eine positive Zwischenbilanz ziehen. „Die Euphorie ist ungebrochen“, hat auch Bernd Hagenkord, Leiter der deutschsprachigen Abteilung von Radio Vatikan, beobachtet. „Solch eine authentische Figur wie Franziskus gibt es in der heutigen Zeit kein zweites Mal“, sagt er. „Es gibt bei ihm keine Brüche, sondern eine vollständige Übereinstimmung zwischen Reden und Handeln. Und in seiner Herzlichkeit übertrifft er sogar den Dalai Lama.“

Einem authentischen Menschen glaubt man leichter – also stellt sich die Frage, wofür Franziskus inhaltlich steht. Bernd Hagenkord sagt: „Inhaltlich ist Franziskus alles andere als weichgespült.“

Es lohnt sich ein Blick in sein apostolisches Schreiben „Evangelii Gaudium“ (Die Freude des Evangeliums), eine Art Regierungserklärung des Papstes. Schon zu Beginn des Werkes zeigt sich, dass der Papst jeden Menschen persönlich ansprechen und dessen Beziehung mit Gott stärken will. „Am Anfang des Christseins steht nicht ein ethischer Entschluss oder eine große Idee, sondern die Begegnung mit einem Ereignis, mit einer Person“, schreibt der Papst und will seine Gläubigen gleichsam an den Beginn zurückführen, in die Zeit, als man noch voller Begeisterung Christ war. Dann stellt der Papst klar, was er von jedem einzelnen Katholiken erwartet: Verkündigung. „Die Christen haben die Pflicht, das Evangelium ausnahmslos allen zu verkündigen, nicht wie jemand, der eine neue Verpflichtung auferlegt, sondern wie jemand, der eine Freude teilt.“

Franziskus hat klare Vorstellungen vom Christsein

Dann wird der Papst noch deutlicher: „Wir alle sind zu diesem neuen missionarischen Aufbruch berufen“, schreibt er. Und er fordert, „hinauszugehen aus der eigenen Bequemlichkeit“. Wieder und wieder betont der Papst, dass er damit nicht nur die Priester meint, seine Amtsträger. Nein, er spricht jeden einzelnen Katholiken an – und nimmt sogar die Bedeutung der Amtskirche zurück: „Ich glaube nicht, dass man vom päpstlichen Lehramt eine endgültige und vollständige Aussage zu allen Fragen erwarten muss, welche die Kirche und die Welt betreffen.“

Mission – die Aufgabe für jeden Christen. Und: Franziskus stärkt die Ortskirchen, die nationalen Bischofskonferenzen. Er schreibt wörtlich: „Es ist nicht angebracht, dass der Papst die örtlichen Bischöfe in der Bewertung aller Pro-blemkreise ersetzt, die in ihren Gebieten auftauchen. In diesem Sinn spüre ich die Notwendigkeit, in einer heilsamen Dezentralisierung voranzuschreiten.“ Ein Papst, der sich selbst zurücknimmt. Und der schreibt: „In der Kirche begründen die Funktionen keine Überlegenheit der einen über die anderen. Tatsächlich ist eine Frau, Maria, bedeutender als die Bischöfe.“

Bernd Hagenkord sagt: „Franziskus spürt, dass die Reform der Kirche vor Ort passieren muss. So etwas kann man nicht von Rom aus lenken. Reform ist keine Frage einer Doktrin, sondern von neuem pastoralen Denken.“ Das funktioniert aber nur, wenn die Katholiken aufwachen, sich wieder begeistern lassen, und wenn in den Ortskirchen weltweit eine neue Dynamik entsteht. Franziskus ermutigt dazu, den Glauben zu erneuern und weiterzugeben – und nicht zu verzweifeln. „Evangelisierung hat viel Geduld“, schreibt der Papst. Und: „Wenn der Sämann inmitten des Weizens das Unkraut aufkeimen sieht, reagiert er nicht mit Gejammer und Panik.“

Doch was, wenn verkrustete Strukturen einem Neuanfang entgegenstehen? Der Papst sieht auch dieses Problem und schreibt: „Es gibt kirchliche Strukturen, die eine Dynamik der Evangelisierung beeinträchtigen können.“ Auch das ist Franziskus: Ein Papst, der ans Eingemachte geht, Strukturen hinterfragt. Der den Aufbau der römischen Kurie, also gleichsam der Regierung der Kirche, auf den Prüfstand stellt. „Franziskus bricht nichts übers Knie, er lässt sich beraten, er hört zu, er lässt sich auch von den Medien nicht unter Druck setzen“, sagt Bernd Hagenkord. „Und er hat die Ausdauer, sich durchzubeißen.“

Auch an seine Pfarrer vor Ort wendet sich der Papst. Ausführlich schreibt er von der Bedeutung der Predigt, ermahnt, dass man sich Zeit für Vorbereitung nehmen soll. Und er warnt vor einseitigen Predigten und spricht von einem Missverhältnis, „wenn mehr vom Gesetz als von der Gnade, mehr von der Kirche als von Jesus Christus, mehr vom Papst als vom Wort Gottes gesprochen wird“.

Erzieherische Kraft der Vorschriften hinterfragen

Die Lehre der katholischen Kirche wird gern als Ansammlung von Normen und Dogmen verstanden. Dazu schreibt Franziskus: „Es gibt kirchliche Normen oder Vorschriften, die zu anderen Zeiten sehr wirksam gewesen sein mögen, aber nicht mehr die gleiche erzieherische Kraft als Richtlinien des Lebens besitzen. Der heilige Thomas von Aquin betonte, dass die Vorschriften, die dem Volk Gottes von Christus und den Aposteln gegeben wurden, ganz wenige sind.“

Papst Franziskus entwirft in seinem Schreiben eine offene Kirche, eine Kirche der Freude und der Barmherzigkeit, eine Kirche, die sich um die Armen kümmert. „Brechen wir auf, gehen wir hinaus, um allen das Leben Jesu Christi anzubieten!“, schreibt der Papst. „Mir ist eine verbeulte Kirche, die verletzt und beschmutzt ist, weil sie auf die Straßen hinausgegangen ist, lieber, als eine Kirche, die aufgrund ihrer Verschlossenheit und ihrer Bequemlichkeit, sich an die eigenen Sicherheiten zu klammern, krank ist.“

Am 13. März 2013 bat der Papst die Menschen auf dem Petersplatz, für ihn zu beten. Ein Jahr später macht Franziskus deutlich: Er will eine Reform, er hat eine Vision von Kirche, und er will alles dafür einsetzen, um diese Vision mit Leben zu erfüllen. Aber ohne das Mithelfen jedes einzelnen Christen wird eine neue Kirche nicht gelingen. Ein Papst allein schafft so etwas nicht.