Egon Bahr stirbt im Alter von 93 Jahren: Der Vordenker der Ostpolitik

Ohne Zigaretten ging es nicht. Wenn Egon Bahr mehrmals in der Woche in seinem Büro im vierten Stock des Willy-Brandt-Hauses auftauchte, war der Raum rasch eingeräuchert. Willy Brandt hatte ihm einmal empfohlen, nicht zu plötzlich aufzuhören. Auf sein Laster angesprochen, meinte Bahr schelmisch: „Ich bewundere Helmut Schmidt. Der raucht nur noch die Hälfte im Vergleich zu früher: 40 Stück am Tag.“

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Die Worte und Gedanken, die Bahr noch im hohen Alter mit dem Glimmstängel in der Hand formte, waren stets brandaktuell. Der kleine Mann, der einst in Moskau mit dem sowjetischen Außenminister Andrej Gromyko den Entspannungsvertrag aushandelte und zum Mitarchitekten der Ostpolitik seines Kanzlers und engen Freundes Brandt wurde, sorgte sich im Ukraine-Konflikt bis zuletzt um das Verhältnis zu Russland.

Er war fest davon überzeugt, dass es wichtig sei, den Faden nach Moskau nicht abreißen zu lassen. „Es gilt der Grundsatz von Willy Brandt: Kleine Schritte sind besser als große Worte“, sagte Bahr noch im vergangenen Sommer. Erst vor vier Wochen war er wieder in Moskau, diskutierte dort gemeinsam mit Ex-Sowjetpräsident Michail Gorbatschow über die aktuelle Eiszeit zwischen Russland und dem Westen.

In der russischen Hauptstadt hatte am 22. Mai 1970 die große Stunde des Egon Bahr geschlagen. „Geschafft!“: Kurz und knapp meldete der Staatssekretär den Durchbruch im Ringen mit Gromyko. Der Abschluss der Verträge von Moskau und Warschau über einen Gewaltverzicht und eine politische Annäherung zählte zu den Höhepunkten in Bahrs Lebenswerk. Außerdem suchte er die Annäherung an die DDR, um die deutsch-deutschen Verhältnisse zu verbessern.

Unbestrittener Tiefpunkt seiner politischen Karriere war der 7. Mai 1974. An jenem Tag trat Brandt wegen der Guillaume-Affäre zurück. Die Stasi hatte den DDR-Spion Günter Guillaume in die engste Umgebung des SPD-Kanzlers eingeschleust. Als sein Freund stürzte, weinte Bahr.

Später erinnerte er sich an diesen schicksalsreichen Tag so: „SPD-Fraktionschef Herbert Wehner schrie in der Fraktion: Willy, du weißt, wir alle lieben dich.“ Ich habe das Wort Liebe aus diesem Mund bei dieser Gelegenheit für eine solche Heuchelei gehalten, dass ich meine Tränen nicht mehr zurückhalten konnte.“

Der 1922 im thüringischen Treffurt geborene Lehrersohn Bahr wuchs in Berlin auf. Von 1942 bis 1944 nahm er als Soldat am Zweiten Weltkrieg teil. Als die Nazis herausfanden, dass seine Großmutter Jüdin war, wurde er aus der Wehrmacht entlassen. Gern wollte er Musik studieren, entschied sich aber für das Schreiben. Bahr ging zum Rundfunk im amerikanischen Sektor (Rias), machte sich als Kommentator einen Namen.

Auch in die SPD wollte er. Doch das war gar nicht so einfach. Parteichef Kurt Schumacher winkte ab, weil der Bonner Korrespondent Bahr dann einen Quotenplatz für die Medien belegt hätte. 1952 versuchte er es über Brandt: „Er hat gesagt, unter Umständen kann man von draußen mehr bewirken als von drinnen.“ Erst im Oktober 1956 schaffte es Bahr im dritten Anlauf, Mitglied „meiner glorreichen Partei“ zu werden. Brandts Kommentar dazu: „Wem nicht zu raten ist, dem ist auch nicht zu helfen.“

Der damalige Regierende Bürgermeister von Berlin machte Bahr 1960 zu seinem Pressesprecher. Mit Brandt, dem Außenminister der Großen Koalition, wechselte Bahr 1966 ins Auswärtige Amt nach Bonn. Drei Jahre später wurde er Staatssekretär im Kanzleramt, dann Bundesminister für besondere Aufgaben. Unter Brandts Nachfolger Helmut Schmidt übernahm Bahr schließlich das Entwicklungsministerium. Später war er noch SPD-Bundesgeschäftsführer, zur ersten gesamtdeutschen Wahl 1990 kandidierte Bahr nicht mehr für den Bundestag.

An Bahr schieden sich zeitlebens die Geister. Die einen bewunderten den Mann mit der meist bewegungslosen Mimik, der wie kein Zweiter in Bonn im Hintergrund für Brandt die Strippen zog, für seinen messerscharfen Verstand. Von großen Teilen der Schwarzen wurde er bekämpft. Als ihm der Berliner Senat zu seinem 80. Geburtstag die Ehrenbürgerwürde verlieh, war die Hauptstadt-CDU dagegen.

Es bleiben große außenpolitische Wegmarken: Als Architekt der Ostpolitik, der die Insel Westberlin gesichert hat, der Brücken baute zwischen beiden Teilen des gespaltenen Landes und damit schließlich die Grundsteine für das vereinigte Deutschland legte. Seine 1963 in einer Rede in Tutzing geprägte Formel „Wandel durch Annäherung“, die zur Grundlage der Neuorientierung der Bonner Ostpolitik wurde, hat sich als historisch richtig erwiesen.

Seit Brandts Tod 1992 sorgte Bahr unermüdlich dafür, dass die politischen Überzeugungen, die er mit seinem Freund teilte und vorantrieb, nicht in Vergessenheit gerieten. Vor zwei Jahren brachte er das Buch „Das musst du erzählen – Erinnerungen an Willy Brandt“ heraus. Bahr blickte aber nie nur zurück, sondern brachte sich wohldosiert als Mahner in die aktuelle Politik ein. Angela Merkels Euro-Krisenpolitik verfolgte er unter Verweis auf die Lehren der Weimarer Republik kritisch: „Wenn zu viele Menschen in Not geraten und die Hoffnung verlieren, gerät die Demokratie in Gefahr. Das ist in Griechenland zu beobachten, verstärkt durch außenpolitischen Druck, der die Würde des Landes verletzt“, schrieb Bahr.

Egon Bahr und Helmut Schmidt
Bundeskanzler Helmut Schmidt unterhält im April 1982 in München mit Egon Bahr.
Foto: Istvan Bajzat/Archiv

Kurz vor der Bundestagswahl 2013 hoffte er noch, dass die SPD nicht in einer Großen Koalition mit der CDU landen würde. „Wir sind nicht dafür da, der CDU zur Regierung zu verhelfen und so zur Verkleinerung der SPD beizutragen.“ Am Mittwoch starb Egon Bahr in Berlin im Alter von 93 Jahren. Seine zweite Frau Adelheid war bei ihm.Tim Braune/Georg Ismar