Der Bundespräsident im Interview: Deutschland ist international gefordert

Joachim Gauck
Bundespräsident Joachim Gauck war mit seinen deutlichen Äußerungen zu Russland angeckt. Foto: Fredrik von Erichsen

Deutschland sollte im Konzert der Völker der Welt eine stärkere Verantwortung übernehmen. Die fordert Bundespräsident Joachim Gauck zur Halbzeit seiner (ersten) Amtszeit im Interview mit unserer Zeitung.

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Herr Bundespräsident, die Ukraine-Krise, der IS-Terror, der Gaza-Konflikt – ist die Welt aus den Fugen geraten?

Die Welt ist in Unruhe. Wir kennen dieses Phänomen zwar auch aus anderen Zeiten. Aber wenn Krieg und Terror weiter von hier entfernt stattfinden als jetzt, dann entsteht ja manchmal das Gefühl, uns könne nichts passieren. Das bedeutet, der Blick beschränkt sich auf die eigene, unmittelbare Umgebung – zu Unrecht, denn wir sind als Weltbürger vernetzt in dieser Welt. An der Peripherie unseres Friedens und unseres Wohlstands sind wir umgeben von manchen sehr bedrohlichen Szenarien. Dazu müssen wir uns verantwortungsvoll verhalten.

Viele Menschen machen sich Gedanken darüber, ob die Ukraine-Krise zu einem Krieg in Europa führen könnte. Können Sie den Menschen diese Sorge nehmen?

Ich glaube nicht, dass von der Ukraine-Krise eine kriegerische Bedrohung für Mitteleuropa ausgeht. Mit dieser Antwort will ich allerdings nicht meine Sorge verhehlen vor dem, was dort gerade passiert: Dass im Osten Europas, in unmittelbarer Nachbarschaft zur EU, ein lange Jahre akzeptierter Respekt vor Völkerrecht plötzlich durch Russland infrage gestellt wird. Und dass es scheint, als gelte das Recht des Stärkeren und nicht die Stärke des Rechts. Beides ist eine große Herausforderung für alle demokratischen Länder.

Wird es aus Ihrer Sicht mit dem russischen Präsidenten eine diplomatische Lösung des Ukraine-Konflikts geben können?

Ja, das wird es. Und ich freue mich in diesem Zusammenhang sehr darüber, dass die Bundesregierung sich seit Beginn dieser Krise außerordentlich verantwortungsvoll um eine diplomatische Lösung bemüht. Deutschland ist durch seine politische und ökonomische Stabilität eine Position zugewachsen, auf die viele Länder in der Welt schauen. Ich wünsche mir, dass wir diese Position mit der inneren Haltung verbinden, uns noch stärker auch für die Lösung von Konflikten außerhalb unserer Grenzen verantwortlich zu fühlen – so, wie es derzeit die Bundeskanzlerin und der Bundesaußenminister im Falle der Ukraine tun.

Ist das deutsche Volk überhaupt bereit zu mehr Verantwortung?

Das denke ich schon. Allerdings sollten wir offen darüber diskutieren, wie vielschichtig diese Verantwortung sein kann. Sie spielt ja nicht nur auf dem Feld der Diplomatie – also wenn eine Krise bereits schwelt – sondern auch auf dem Feld der Krisenprävention. Die Verantwortung greift aber auch auf ganz anderen Feldern: im Klimaschutz etwa, in der wirtschaftlichen Zusammenarbeit, beim Umgang mit Flüchtlingen nach Europa. Im Moment löst der Begriff von Deutschlands Rolle in der Welt meist eine Debatte über militärische Einsätze aus. Aber es geht bei der Frage nach unserer gewachsenen Verantwortung um etwas Grundsätzlicheres; es geht vor allem um die Frage, ob wir in einer zunehmend globalisierten Welt nicht nur ökonomisch eine starke Rolle spielen, sondern auch politisch und welche praktischen Konsequenzen das haben kann.

Warum sind Sie als Bundespräsident bislang noch nicht nach Russland gereist?

Ich hatte schon zu Beginn meiner Präsidentschaft vor, nach Russland zu reisen und mit meinen Gesprächspartnern dort darüber zu reden, was uns verbindet und was uns noch trennt. Es gab auch Gespräche zwischen der russischen Seite und uns über mögliche Termine. Nun haben sich die Ereignisse in einer Weise zugespitzt, dass sich die Frage einer Reise nach Russland zurzeit nicht stellt.

Ist es richtig, dass Sie eine russlandkritische Haltung haben, weil Ihr Vater viele Jahre in einem Straflager in Sibirien verbringen musste?

Das wird zwar gelegentlich so geschrieben, aber es ist falsch, und damit verkennt man die Grundierung meiner politischen Ansichten. Mir geht es bei meiner Kritik nicht um das Land Russland, das ich mit seiner Kultur und seinen Menschen schätze. Mir geht es um die Missachtung von Bürgerrechten, von Menschenrechten und um den Bruch des Völkerrechts. Wenn ich nach Russland blicke, dann sehe ich nicht nur die Regierung, sondern auch die Regierten. Ihr Schicksal ist der Grund für meine Kritik am Kreml.

Hat der Westen Fehler gemacht und Russland nicht ausreichend an sich gebunden oder in die Politik einbezogen?

Ich sehe solche Fehler auf westlicher Seite nicht. Die Nato und die EU waren nach der deutschen Wiedervereinigung an Russland mit Vertrags- und Bündnisangeboten herangetreten. Es war das Interesse des Westens, Russlands Sicherheit zu garantieren. Ich kann die Auffassung mancher Beobachter und Kommentatoren nicht nachvollziehen, dass man es Russland nicht zumuten könne, wenn in seinem Umfeld andere Völker eigene Politik-Entscheidungen treffen. Als Teil der ostdeutschen Demokratiebewegung hätte ich mich auch niemals mit dem Gedanken zufriedengegeben, dass eine Demokratisierung Ostdeutschlands und Polens Moskau nicht zumutbar sei.

Das Selbstbestimmungsrecht der Völker hat Vorrang. Deshalb muss der selbst gewählte, auch an einer engen Zusammenarbeit mit der EU orientierte Weg der Ukraine respektiert werden. Ich kann nicht nachvollziehen, dass wir in vorauseilendem Gehorsam die Empfindsamkeiten Russlands ernster nehmen sollten als das Selbstbestimmungsrecht der ukrainischen Bevölkerung.

Wie schwerwiegend ist das Argument der Russen, dass es rund um die deutsche Wiedervereinigung ein Versprechen gab, die Nato werde sich nicht nach Osten erweitern?

Auch wenn es keine vertragliche Zusicherung gab, so war doch der Grundgedanke, den man damals miteinander ausgetauscht hat, dass man zwischen den Ländern eine Vertrauensbeziehung schaffen wollte. Als der Nato-Russland-Vertrag geschlossen wurde, hat der Westen zusammen mit Russland das Signal gegeben: Wir wollen eine Zukunft in Kooperation, wir wollen miteinander befreundet sein. Das funktionierte ja zunächst auch. Deshalb halte ich es für eine Schutzbehauptung der politischen Führung in Russland, dass der Westen bedrohlich geworden sei.

Würden Sie heute sagen: Wie gut, dass es die Nato-Osterweiterung gegeben hat?

Ja, das würde ich. Unsere Nachbarn hatten das Recht, der Nato beizutreten, die für sie nicht nur als politisches Bündnis, sondern auch als Verteidigungsbündnis von zentraler Bedeutung war und ist. Besonders aus Sicht unserer polnischen und unserer baltischen Freunde sind die Garantien des Bündnisses unverzichtbar für ihre Sicherheit.

Trotz aller diplomatischen Bemühungen ist der Ukraine-Konflikt eskaliert. Ist vor diesem Hintergrund der neuen deutschen Verantwortung in der Welt die Position haltbar, dass es keine militärischen Hilfen für die Ukraine geben wird?

Wir kommen nun in den Bereich der operativen Politik, für die das Parlament und die Regierung, nicht aber der Bundespräsident zuständig ist. Ich möchte allerdings gern Ihr Stichwort von der Verantwortung Deutschlands in der Welt aufgreifen. Ich meine, diese Verantwortung hängt ganz eng mit einer bestimmten Ausprägung der Freiheit zusammen. Freiheit ist ja nicht das Recht des Stärkeren, alles zu tun, was das Ego fördert; Freiheit ist Freiheit zu etwas und für etwas. Als erwachsener und zur Freiheit fähiger Mensch bedeutet Freiheit Verantwortung.

Auf meinen Reisen als Bundespräsident habe ich immer wieder festgestellt, dass unser Deutschland, das ich als Jugendlicher wegen der Schuld der Vätergeneration mit Schrecken gesehen habe, von außen inzwischen sehr wohlwollend betrachtet, mehr noch, dass es zum Teil sogar als Vorbild empfunden wird: Die gefestigte Demokratie hierzulande, die Achtung der Bürger- und Menschenrechte, der soziale Ausgleich, unsere Konsenskultur, die Entwicklung von Forschung und Technik, die wirtschaftliche Situation – das alles trägt uns Anerkennung und Vertrauen ein – auch und gerade Vertrauen in unsere Fähigkeit als Krisenmanager. Dieses Vertrauen sollten wir nutzen, um früh zu erkennen, wo wir politisch und diplomatisch dazu beitragen können, dass keine Konflikte entstehen, die sich zu Kriegen ausweiten könnten. Und wir sollten uns, etwa im Rahmen der EU oder der UNO, für friedliche Lösungen von Krisen einsetzen.

Oder in militärischen Allianzen?

Militärische Einsätze im Rahmen militärischer Allianzen und mit einem Mandat der UN ausgestattet können und dürfen nur das letzte Mittel sein, das erst dann in Betracht gezogen werden darf, wenn friedliche Lösungen keine Chance mehr haben. Schauen Sie, vor 20 Jahren hat die Welt mehr oder weniger dabei zugesehen, wie in Ruanda fast eine Million Menschen regelrecht abgeschlachtet worden sind. Experten sagen uns, das frühzeitige Eingreifen einer überschaubaren Zahl von Soldaten hätte diesen Völkermord verhindern können. Das ist eine außerordentlich bittere Erkenntnis, die wir nicht vergessen dürfen.

Wir haben sehr viele Gedenktage in diesem Jahr: 100 Jahre Ausbruch Erster Weltkrieg, 75 Jahre Ausbruch Zweiter Weltkrieg, 25 Jahre friedliche Revolution und Mauerfall. Besteht die Gefahr, dass die Erinnerungskultur zur Routine wird?

Ich bin ja deutlich älter als Sie und sage Ihnen: Dieses Gefühl hatte schon manche Generation vor Ihnen. Trotzdem ist und bleibt es wichtig, dass wir uns erinnern, dass wir nicht vergessen. Zu unserem gewachsenen demokratischen Bewusstsein gehört auch das Erschrecken darüber, was in der Vergangenheit möglich war – und damit ist auch und gerade das immer wieder neue Erschrecken der Jüngeren gemeint. Ältere Menschen, das liegt in der Natur der Sache, haben den Eindruck, das Erinnern wiederhole sich. Natürlich kann man manche Rituale des Gedenkens immer mal wieder überdenken. Infrage stellen sollte man das Gedenken, aus dem man ja lernt, aber nicht.

Macht Ihnen 25 Jahre nach der friedlichen Revolution und dem Mauerfall die sinkende Wahlbeteiligung im Osten Sorgen?

Wir haben im Osten noch deutliche Züge einer Transformationsgesellschaft, einfach weil vor allem die älteren Ostdeutschen es nicht über 60 Jahre trainieren konnten, aktive, selbstbewusste Bürger zu sein, freie Medien zu haben, freie Gerichte, freie Wissenschaft und Forschung ... Da entsteht eine andere Mentalität als dort, wo die Mitwirkung des Einzelnen viel leichter möglich und viel häufiger gefragt war. Im Westen gibt es ein stärkeres Engagement in Parteien oder Gewerkschaften, in Vereinen oder Bürgerinitiativen, weil Eigenständigkeit schon von der Schule an gefördert wurde. Das wunderbare Lebensgefühl, sich selbst als jemand zu erleben, der in der Gemeinschaft etwas bewegen kann, das muss bei manchem erst noch wachsen.

Das klingt sehr verständnisvoll für jemanden, der in seinen öffentlichen Auftritten leidenschaftlich von seiner eigenen ersten freien Wahlentscheidung berichtet hat ...

Diese Erinnerung finden Sie auch bei der Mehrheit der Ostdeutschen. Dennoch ist ihnen eben auch das Gefühl vertraut, in den eigenen Rechten als Bürger stark eingeschränkt zu sein. Wer diese Beschränkung, diese Ohnmacht, jahrzehntelang als Normalfall erlebt hat, der neigt eher dazu, sich in den privaten Raum zurückzuziehen. Und ganz generell gilt: Nicht alle Menschen sind politisch.

Beobachten Sie als Bundespräsident das Erstarken der AfD mit besonderem Augenmerk?

Ich möchte als Bundespräsident nicht über einzelne Parteien räsonieren. Mir geht, mit Blick auf die aktuelle Parteienlandschaft, Walter Rathenau durch den Kopf. Er hat einmal gesagt: Denken heißt vergleichen. Deshalb ist zur Festigung unseres politischen Urteils der vergleichende Blick hilfreich. Ich vergleiche Deutschland mit seinen Nachbarstaaten, und ich sehe in allen Ländern, die uns umgeben, in hoch achtbaren, vorbildlichen Demokratien, das Erstarken von Gruppierungen, die im europäischen Weg eher Unheil sehen als Zukunft.

Bei diesen Gruppierungen gibt es eine mehr oder weniger starke Rückbesinnung auf die Nation. Wir müssen uns damit auseinandersetzen, was es bedeutet, wenn europakritische Bewegungen in Deutschland aufkommen. Und wenn ein Teil der Bürger etwa das Gefühl hat, Brüssel mache uns zu viele Vorgaben, dann sollte das zwar diskutiert werden – allerdings ohne das Kind mit dem Bade auszuschütten. Wir können als Deutsche in Europa doch unsere Sprache weiter nutzen, unsere Kultur pflegen, unsere Lieder singen … Weil wir Europäer sind, hören wir nicht auf, Deutsche zu sein und nationale Interessen zu definieren. Was nimmt die EU uns denn weg?

Wir sind im siebten Jahr der Lutherdekade. Wo steht aus Ihrer Sicht die Ökumene?

Noch nicht da, wo sie stehen sollte. Und sie wird auch bis 2017 nicht ganz da angekommen sein, wo es wünschenswert wäre. Was sich in Jahrhunderten verfestigt hat, ist nicht durch den guten Willen einer Generation oder zweier Generationen zu verändern. Es gibt Dinge, die haben die evangelische und die katholische Kirche zusammengebracht, dazu zählen auch die Erfahrungen mit Diktaturen. Ich war als Pfarrer in der DDR Gast in einem katholischen Gotteshaus, so wie viele katholische Gemeinden Gast in evangelischen Gotteshäusern waren. Da ist eine natürliche Basis entstanden, und auch im Westen sind an der Basis viele Gemeinsamkeiten gewachsen bei Themen wie „Eine Welt“, Entwicklungszusammenarbeit, Menschenrechte, aber auch auf geistlichem Gebiet wie den Jugendtreffen der Taizé-Bewegung. Trotzdem kann zwischen beiden Kirchen natürlich noch mehr Nähe wachsen.

Wie gefällt Ihnen denn der neue Papst?

Papst Franziskus ist es gelungen, den Eindruck eines großen Aufwachens zu schaffen. Das ist für die Kirche deswegen so wichtig, weil ein Teil ihrer Anhänger Sorge hat, dass sie sich einigelt. Als ich den Vorgänger, Papst Benedikt, besucht habe, habe ich mit ihm über den Wert eines lebendigen Glaubens in vielen Gemeinden und Orden gesprochen – und über die Frage, ob es nicht dieser lebendige Glaube ist, der die Zukunft der Kirche eher garantiert.

In Ihrem Alter sind andere längst im Ruhestand. Spüren Sie Ihr Alter?

Wenn ich im Dienst bin, nicht. Wenn ich im Urlaub bin und mit den Enkeln Fußball spielen soll, dann schon.

Sie haben jetzt Halbzeit in Ihrer Amtszeit als Präsident. Haben Sie sich seit Amtsantritt als Mensch verändert?

(lacht) Ich bin vorsichtiger geworden. Das ist nicht immer leicht, aber meistens kann ich gut damit leben.

Die einfachste Frage zum Schluss: Denken Sie an eine zweite Amtszeit?

Netter Versuch.

Das Gespräch führten Michael Bröker und Eva Quadbeck