Brüssel/Berlin

Berlins folgenreiche Dublin-Entscheidung

Flüchtlinge aus Syrien: Die Verteilung in der EU soll neu geregelt werden.  Foto: dpa
Flüchtlinge aus Syrien: Die Verteilung in der EU soll neu geregelt werden. Foto: dpa

Die Flüchtlingskrise stellt die EU auf die Probe. Die Mitgliedsstaaten streiten heftig über die Verteilung von Asylbewerbern und über die Anwendung der europäischen Asylregeln. Deutschland hat beschlossen, syrische Flüchtlinge nicht mehr in andere EU-Staaten zurückzuschicken. Ungarn reagierte mit einer Provokation. Das Problem zeigt, dass die europäische Solidarität der Staaten in der Krise nicht funktioniert.

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Von Marion Trimborn und Christiane Jacke

Was hat Deutschland im Umgang mit syrischen Flüchtlingen geändert?

Seit dem Beginn des Syrien-Konflikts 2011 haben fast 110 000 Menschen von dort in Deutschland einen Asylantrag gestellt. Sie werden zu fast 100 Prozent als Flüchtlinge anerkannt. Das Bundesamt für Migration und Flüchtlinge (Bamf) hat für sie schon Ende 2014 ein beschleunigtes Verfahren eingeführt: Sofern keine Zweifel an ihrer Identität bestehen, müssen Syrer keine persönliche Anhörung mehr mitmachen, sondern können ihre Fluchtgründe schriftlich erklären. Nun kam eine weitere Lockerung hinzu: Das Bamf verzichtet bei Syrern auf die sogenannte Dublin-Prüfung. Normalerweise wird bei jedem Asylbewerber gecheckt, ob er zuerst in einem anderen EU-Land europäischen Boden betreten hat. Ist dem so, muss er dorthin zurück. Deutschland will Syrer aber nicht mehr in andere europäische Länder zurückschicken, über die sie in die Europäische Union eingereist sind.

Heißt das, dass Deutschland nun in deutlich größerem Umfang syrische Flüchtlinge aufnehmen will?

Der Bund wollte mit der Änderung nicht das Signal an Syrer aussenden: Kommt alle nach Deutschland. Es geht der Regierung vielmehr darum, die Verfahren für jene, die schon im Land sind oder ohnehin herkommen, zu beschleunigen. Außerdem betont das Innenministerium die humanitäre Verantwortung für Syrer. Schon vorher hat Deutschland kaum syrische Asylbewerber in andere EU-Staaten zurückgeschickt. Die neue Verfahrensvereinfachung setze keineswegs die Dublin-Verordnung in Europa außer Kraft, mahnt das Innenressort. Jeder Flüchtling müsse sich in dem Land registrieren lassen, über das er in die EU einreise.

Wie haben andere EU-Staaten reagiert?

Die deutsche Ankündigung sorgte für Irritationen. Denn das eherne Dublin-Prinzip der EU wird – für eine bestimmte Flüchtlingsgruppe – kurzerhand ausgesetzt. Manch ein Land sieht dies als Freibrief dafür an, Flüchtlinge einfach nach Deutschland durchzuwinken. Ungarn warf Deutschland Nachgiebigkeit mit den Dublin-Vorschriften vor und ließ am Montag Hunderte Migranten mit überfüllten Zügen ungehindert Richtung Wien und München ausreisen. Der tschechische Innenminister Milan Chovanec brachte die Idee eines humanitären Flüchtlingskorridors für Syrer direkt nach Deutschland ins Spiel. Beides ist keineswegs im Sinne der Bundesregierung.

Was passiert mit den Flüchtlingen, die nun mit dem Zug aus Ungarn nach Deutschland gekommen sind?

Sie können ganz normal einen Asylantrag stellen. Für syrische Flüchtlinge gilt dabei das vereinfachte Verfahren – und für sie besteht eine sehr große Chance, dass sie in Deutschland bleiben dürfen. Dass sie vorher in Ungarn waren, spielt bei Syrern keine Rolle – selbst wenn sie dort registriert worden wären.

Verstößt Deutschland mit dieser Neuerung gegen geltendes EU-Recht?

Nein, sagt die EU-Kommission und begrüßt die faire Lastenteilung: „Die Aussetzung der Dublin-Regeln von Deutschland hilft, den Druck von anderen EU-Staaten zu nehmen“, sagt eine Sprecherin. Auch Brüssel will die Vorgaben reformieren und dauerhaft Flüchtlinge in der EU gerechter verteilen. Das stößt aber auf Widerstand vieler Staaten.

Wozu sind die EU-Staaten verpflichtet?

Nach den Dublin-Vorgaben müssen sie jeden ankommenden Migranten registrieren und Fingerabdrücke nehmen. Italien und auch Griechenland haben dies in der Praxis aber oft lasch gehandhabt und Migranten einfach weiterreisen lassen. Nun steht Ungarn im Fokus. „Die Schuld liegt aber nicht allein bei Ungarn“, meint ein EU-Diplomat. Denn viele Flüchtlinge kooperierten nicht und täten alles, um nicht in Ungarn registriert zu werden – damit sie etwa in Deutschland Asyl beantragen könnten. Die EU-Kommission hat zugesagt, in Budapest ein Registrierungszentrum aufzubauen, wo Beamte Asylberechtigte von Wirtschaftsflüchtlingen trennen. Österreich fordert, EU-Staaten, die sich nicht an die Regeln halten, Fördermittel zu streichen.

Was hat die EU jetzt vor?

Das Thema bleibt ganz oben auf der Agenda. EU-Kommissionspräsident Jean-Claude Juncker will am 9. September Vorschläge für eine dauerhafte und gerechtere Umverteilung von Flüchtlingen auf alle EU-Staaten vorlegen. Auch eine EU-weite Liste sicherer Herkunftsstaaten soll entstehen – sie soll Rückführungen erleichtern.

Was erwartet Deutschland von der EU?

Kanzlerin Angela Merkel verlangt europäische Solidarität und will Lösungen auf EU-Ebene. Doch das dürfte schwierig werden. Denn nach wie vor sind etliche Länder – aus innenpolitischen Gründen – nicht bereit, sich von der EU vorschreiben zu lassen, wie viele Flüchtlinge sie aufnehmen. Zu den Gegnern verbindlicher Aufnahmequoten zählen etwa osteuropäische und baltische Staaten sowie Frankreich.