Berlin

Lesen im Netz: Nutzer wird herausgefordert

Das Lesen im Netz ist schon längst alltäglich geworden.
Das Lesen im Netz ist schon längst alltäglich geworden. Foto: dpa

Auf Internetseiten kann man sich verlieren. Man beginnt einen Text zu lesen, wird mittendrin über einen Link auf einen anderen Text geleitet, der einen zu einem spannenden Video führt, das man auch noch sehen möchte – und so geht es fort. Das digitale Lesen funktioniert anders als das über Jahrhunderte gelernte Vertiefen in ein einziges Buch. Kulturpessimisten mögen das bedauern. Doch das digitale Lesen bietet auch neue Chancen für Kreativität und Denkvermögen, behaupten Wissenschaftler.

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Von Rena Lehmann

Bei einer Tagung in Berlin der Mainzer Stiftung Lesen haben Experten Risiken und Vorteile des Lesens im Internet diskutiert. Erst gerade hat die internationale Vergleichsstudie ICILS der Technischen Universität Dortmund herausgefunden, dass das Aufwachsen mit den neuen Medienwelten nicht unbedingt bedeutet, dass die jungen Leute sie auch gekonnt nutzen und dabei lernen. „30 Prozent der Achtklässler haben geringe Medienkompetenzen, können Computer und Informationstechnologien nur rudimentär nutzen“, führt Jörg F. Maas von der Stiftung Lesen aus.

Die gleichen Gruppen, die schwache Leser sind, müssen auch beim Nutzen digitaler Medien gefördert werden. Jungen und Kinder aus eher bildungsfernen Familien könnten aber mit Spielen, Apps oder neuen Leseformen wie „Social Reading“ besser erreicht werden als mit dem konventionellen Schulbuch. Experten trauen den digitalen Medien viel zu.

Sie beschreiben das Lesen im Netz als neue, eigene Form der Auseinandersetzung mit Texten. Texttheoretiker Stephan Porombka unterscheidet heute zwischen „Deep Attention“ und „Hyper Attention“: Während das Ziel von Lehrern heute immer noch sei, dass ein Schüler sich in einen Text vertieft (Deep Attention), richtet sich die Aufmerksamkeit eines Lesers im Netz darauf, wie sich der vorliegende Text vor ihm ständig verändert (Hyper Attention). Der digitale Leser wird zu einer „Radarpersönlichkeit“, er nimmt rasch, schnell und viel wahr.

Was mancher Internetnutzer als Überforderung wahrnimmt, wird für die junge Generation Normalität werden, prognostiziert der Trainer für Online-Lese-Projekte, Michael Frank Neuhaus. Mit Schülern hat er online ein Buch gelesen – und dabei alle sozialen Medien, in denen sie sich selbstverständlich aufhalten, einbezogen. Via Twitter und Facebook haben sie die Geschichte kommentiert und weitergeschrieben, sich begleitend spielerisch und rätselnd mit Sprache und ihren Möglichkeiten befasst. „Social Reading“ nennt man das, in Anlehnung an die sozialen Medien, die heute den weltweiten Austausch in Echtzeit über jedes beliebige Thema ermöglichen. Neuhaus ist überzeugt, dass die Vielfalt der Möglichkeiten von Online-Medien auch die unterschiedlichen Fähigkeiten von Kindern und Jugendlichen besser zur Geltung bringen kann. „Sie müssen sich beim Denken bewegen. Es zählen Kreativität und Spontaneität“, meint Neuhaus.

Auch Germanistin Berbeli Wanning von der Universität Siegen plädiert dafür, die digitale Welt als Chance für das Lesen zu sehen und nicht als dessen trauriges Ende. Sie nennt Texte im Netz „Hyper-Texte“. Deren Konsum schult aus ihrer Sicht das Denken auf mehreren Ebenen. Weil ständig neue Perspektiven eingenommen werden können, werden auch Empathie und Urteilsfähigkeit entwickelt. Prozesse des Lesens und Schreibens liegen beim Online-Text näher zusammen als beim herkömmlichen Text.

Dokumente im Netz sind beweglich, veränderbar. Man kann sie kommentieren oder sogar an ihnen mitarbeiten – das zeigen Beispiele wie die Internet-Nachschlagewerk Wikipedia oder auch literarische Formen wie „Fan-Fiction“, bei denen Fans von Geschichten diese selbst weiterschreiben, sich neue Figuren oder neue Wendungen in der Handlung ausdenken. „Diesen Kreativitätsimpuls darf man nicht austreiben“, sagt Wanning.

Allerdings verlangt das digitale Lesen dem Nutzer auch viel ab. Weil der Text, den er gerade liest, immer wieder mit neuen Links aufwartet, muss er sich ständig entscheiden. Weiterlesen oder weiterklicken? Wo bin ich jetzt? Was mache ich als nächstes? Der Hypertext ist meist in andere Texte eingebettet. Wann man mit dem Lesen einsetzt, entscheidet wiederum der Leser selbst. Den klassischen Anfang und das klassische Ende gibt es hier nicht mehr. „Alles, was zu einem Hypertext gehört zu lesen, kann der Leser niemals leisten“, erklärt die Forscherin. Je nach Typ, macht es Menschen nervös zu wissen, dass „da immer noch mehr ist“. Wanning stellt fest: „Beim Lesen eines Hypertextes sind wir viel mehr gefordert, wenn wir uns wirklich in ihn vertiefen wollen.“ Sie will dies jedoch als Qualität der neuen Textformen verstanden wissen.

Der Texttheoretiker Porombka kann in der Vielseitigkeit der Texte und der Vielstimmigkeit über sie im Netz nichts Bedrohliches für die Bildungslandschaft erkennen. „Lesen war schon immer sozial. Es hat schon immer eine private und öffentliche Verständigung über Texte gegeben“, erklärt er. Der Unterschied zu heute sei lediglich, dass man früher viel mehr Zeit für den Austausch benötigte. Früher musste ein Autor Monate auf die erste Rezension zu seinem Werk warten. Heute kriegt er sofort Reaktionen – manchmal sogar schneller als ihm lieb ist.