Kiew

Ukraine: Ein Land zerbricht an sich selbst

Kaum mehr Vertrauen in die Truppe: Zahlreiche Soldaten sind bereits zu russischen Spezialeinheiten übergelaufen.
Kaum mehr Vertrauen in die Truppe: Zahlreiche Soldaten sind bereits zu russischen Spezialeinheiten übergelaufen. Foto: dpa

Maskenmänner in Tarnanzügen stoppen die sechs Luftlandepanzer am Rand der ostukrainischen Ortschaft Kramatorsk. Der Konvoi kommt nicht weiter. Offenbar verhandeln die prorussischen Maskierten mit den Besatzungen der Panzer. Das Verteidigungsministerium in Kiew hat die Soldaten gegen die Separatisten geschickt. Immer mehr Schaulustige drängeln sich am Straßenrand.

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Von unserer Osteuropa-Korrespondentin Doris Heimann

Plötzlich ruft jemand: „Die Armee ist mit dem Volk!“ Die Menge jubelt, als die Soldaten mit gesenkten Köpfen aus ihren Fahrzeugen steigen. Einer der Maskierten sagt kalt: „Gut. Die Panzer können wir gebrauchen.“ Diese Szene von der Kapitulation oder dem Überlaufen ukrainischer Truppen zu den prorussischen Separatisten hat ein Amateurfilmer festgehalten.

Das Verteidigungsministerium in Kiew bestreitet erst, dass Truppenteile desertiert seien. Der Panzereinsatz mit russischen Flaggen sei eine „Kriegslist“. Doch kurz darauf muss man die Niederlage und den Verlust der Militärfahrzeuge kleinlaut eingestehen. Das ukrainische Militär bekommt ganz offensichtlich die Lage im Osten des Landes nicht in den Griff. Die Antiterroraktion, die eigentlich den prorussischen Separatisten in Kramatorsk, Slawjansk und anderen Orten in der Region um Donezk das Wasser abgraben sollte, ist gescheitert. Militärexperten gehen davon aus, dass es sich bei den professionell vorgehenden prorussischen Maskenmännern um Angehörige russischer Spezialeinheiten handelt.

Auf Loyalität der Truppen kein Verlass

Die Übergangsregierung in Kiew kann sich auf die Loyalität ihrer Truppen nicht verlassen. Für die örtlichen Einsatzkräfte des Innenministeriums gilt das sowieso: Sie stammen aus der russischsprachigen Region im Osten und identifizieren sich nicht mit den Zielen ihrer Befehlshaber in Kiew. Zudem soll Aleksandr Janukowitsch (40), Milliardär und Sohn des geschassten Präsidenten, die Uniformierten in der Region Donezk kontrolliert haben. Insider gehen davon aus, dass Janukowitsch junior seinen Einfluss weiter geltend macht.

Aber auch die Armee steht nicht geschlossen zu den neuen Machthabern in Kiew. „Die Stimmung innerhalb der Truppe ist so gespalten wie im Rest der Bevölkerung“, sagt Kristian Pester, Militärexperte bei der Forschungsgruppe Osteuropa der Stiftung für Wissenschaft und Politik in Berlin. In vielen Einheiten dienen sowohl ukrainisch- als auch russischsprachige Soldaten. „Da prallen kulturelle Welten aufeinander.“

Übergangsregierung in einem Dilemma

Die Übergangsregierung in Kiew steckt außenpolitisch noch in einem weiteren Dilemma. Heute sollen in Genf die Gespräche über die Zukunft der Ukraine unter Beteiligung der USA, Russlands und der EU stattfinden. „Die ukrainische Führung will natürlich nicht schuld sein, dass diese Verhandlungen abgesagt werden“, sagt Miriam Kosmehl von der Friedrich-Naumann-Stiftung in Kiew. Russlands Außenminister Sergej Lawrow hatte bereits damit gedroht, Moskau würde die Gespräche platzen lassen, sollte die ukrainische Regierung gewaltsam gegen die Separatisten im Osten vorgehen.

Die deutsche Wirtschaft sieht den Konflikt mit wachsender Sorge. Manager und Ökonomen warnten vor schärferen Sanktionen gegen Russland. Der Hauptgeschäftsführer des Deutschen Industrie- und Handelskammertags (DIHK), Martin Wansleben, forderte den russischen Präsidenten Wladimir Putin auf, mäßigend einzuwirken. Der Präsident des Deutschen Instituts für Wirtschaftsforschung (DIW), Marcel Fratzscher, hält Konjunkturrückschläge in Europa für möglich, sollten gegen Russland Wirtschaftssanktionen verhängt werden. „Ein größeres Risiko sind mögliche Verwerfungen in Finanzmärkten – vor allem durch Turbulenzen und Verluste für die noch immer angeschlagenen Banken in Europa.“ BASF-Chef Kurt Bock mahnte: Wer Boykottmaßnahmen gegen Russland beschließe, müsse die Kosten und den Nutzen eines solchen Beschlusses abwägen und die Frage stellen, wer am meisten leide. Man müsse auch wissen, „wie man von Sanktionen wieder herunterkommt“, sagte er.