Porträt Martin Schulz: Weltpolitiker aus Würselen

Hier bin ich: Nach vielen Jahren auf EU-Ebene wechselt der Sozialdemokrat Martin Schulz in die Bundespolitik. Noch ist aber unklar, ob er Außenminister oder sogar Kanzlerkandidat der SPD wird. Seine Fähigkeiten als Politiker schärfte er schon in seiner Kindheit und Jugend. 
Hier bin ich: Nach vielen Jahren auf EU-Ebene wechselt der Sozialdemokrat Martin Schulz in die Bundespolitik. Noch ist aber unklar, ob er Außenminister oder sogar Kanzlerkandidat der SPD wird. Seine Fähigkeiten als Politiker schärfte er schon in seiner Kindheit und Jugend.  Foto: dpa

Martin Schulz ist etwa 14 Jahre alt, als sich sein politischer Gestaltungswille Bahn bricht. Gerade hat seine Fußballmannschaft „Rhenania 05 Würselen“ klar gegen „Frisch-Froh Stolberg“ gewonnen. Linksverteidiger Martin und sein Kumpel Dietmar wollen sich mit einem Eis belohnen. 20 Pfennige kostet die Kugel in der Eisdiele „Casal“ am Markt. Es ist nur ein kurzer Weg. Eigentlich. Denn eine Bahnlinie zwingt die Jungen zu einem Umweg. Mit einem abschätzigen Blick auf das tiefer gelegte Gleisbett verkündet Martin: „Das müssen wir ändern.“ 20 Jahre später ist es soweit: Als Bürgermeister von Würselen sorgt Martin Schulz dafür, dass die Bahn keine Schneise mehr durch den Ort zieht. „Typisch Martin“, sagt Dietmar Schultheis heute.

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Es ist eine kleine Welt, in der Martin Schulz und seine Freunde aufwachsen. Eine Welt, die geprägt ist vom Spießertum der 50er-Jahre, vom rheinischen Katholizismus und vom Braunkohletagebau, der sich durch die Ortschaften im Aachener Umland fräst. Wenig weist darauf hin, dass Schulz einmal Präsident des EU-Parlaments werden könnte – und vielleicht bald auch Kanzlerkandidat der SPD oder deutscher Außenminister. Wie also hat Schulz es geschafft, die Provinz hinter sich zu lassen und zu einem der mächtigsten Politiker Europas aufzusteigen? Eine Spurensuche.

Das Geburtshaus steht in Eschweiler-Hehlrath, ein Dorf bei Würselen. Hier wird Martin Schulz am 20. Dezember 1955 als jüngstes von fünf Kindern geboren. Keine 50 Meter weiter endet die Straße damals am Rand eines Braunkohle-Kraters. Viele Familien leben vom Tagebau, die Grünen feiern hier heute kaum Erfolge.

Ein offenes Familienhaus

Schon bald zieht die Familie nach Würselen, in ein zweistöckiges Haus in der Mittelstraße. Schulfreunde erinnern sich an ein für jeden offenes Haus, in dem viel über Politik diskutiert wird. In dem es aber auch klare Regeln gibt: Fußballschuhe vor der Tür abstreifen. Spielen in den Zimmern im Erdgeschoss. Martins Mutter, die Dietmar als resolute und herzensgute Frau beschreibt, ist strenge Katholikin und politisch engagiert. Sie gründet den CDU-Stadtverband in Würselen. Martins Vater, ein Polizeibeamter, ist SPD-Anhänger. Offenbar eine Liebesheirat: Bis ins hohe Alter seien die beiden Arm in Arm im Ort spazieren gegangen. Die Richtung aber habe zu Hause die Mutter vorgegeben, sein Temperament habe Martin wohl von ihr, meint der Freund.

Als kleiner Junge ist Martin meist auf dem Fußballplatz zu finden. In nahezu jeder freien Minute rennt er dem Ball hinterher. Nicht immer geht das gut. Wenn beim Spiel auf dem Schulhof mal eines der Kellerfenster zu Bruch geht, setzt es Stockschläge auf die Hand. Wenn gerade kein Ball zur Hand ist, basteln die Freunde sich einen aus Klopapier und Tesafilm. In jener Zeit freundet sich Martin mit einem Mitschüler an, der heute einer seiner engsten Mitarbeiter ist: Herbert Hansen. Er ist für Schulz ein Vertrauter, der auch den Kontakt zur Basis in Würselen hält. Daran liege ihm sehr, heißt es in der 40.000-Einwohner-Stadt. Wenn jemand stirbt, den Martin gut kannte, dann kommt er zur Trauerfeier. Sie rechnen ihm das hoch an.

Ob es eine glückliche Kindheit war? Auf jeden Fall eine mit Freiheiten. Zum Rauchen trifft man sich in einer Abraumhalde neben der Singer-Fabrik. Um Kinofilme zu schauen, die nicht jugendfrei sind, trickst die Clique den Kartenabreißer aus: Einer lenkt ihn ab und tut so, als träte er gegen die Wandverkleidung, die anderen mogeln sich vorbei.

Höhepunkt des Jahres ist im Ort die Kirmes. Für den kleinen Martin, weil er Karussell fahren kann und Freifahrten ergattert, indem er einen Schlüssel fängt, den der Karussellbetreiber den Kindern vor die Nase hält, wie Freunde berichten. Und für den jugendlichen Martin, weil er Kumpel trifft und über Politik diskutieren kann. Über die seinerzeit populäre These, die herrschende Klasse enteignen zu müssen, zum Beispiel.

Jahrelang jedoch steht Fußball an erster Stelle. Ein guter Techniker sei er zwar nicht gewesen, „aber vorbildlich im Einsatz“, meint Schultheis. So ehrgeizig sei Martin, dass er dafür Fouls in Kauf genommen habe, „aber hinterher tat ihm das immer sehr leid“. Er träumt von einer Profikarriere als Fußballer. Eine Knieverletzung kommt später dazwischen.

Eines aber kann ihm keiner streitig machen, Martin Schulz ist stets einer der Wortführer auf dem Platz. Schulz’ lokalpolitischer Kontrahent in Würselen, CDU-Fraktionschef Karl-Jürgen Schmitz, ist auf die rhetorischen Eigenschaften nicht so gut zu sprechen: „Wer sich einmal mit ihm gestritten hat, vergisst das nicht.“ Ein Beispiel hat er gleich parat. Mitte der 80er-Jahre war es, da kam es im Stadtrat zu einem Streit. „Die SPD konnte noch nie mit Geld umgehen“, wetterte Schmitz. Schulz konterte: „Sie Winkeladvokat, halten Sie den Mund.“

Freunde von früher erkennen darin jenen Schulz, der knapp 20 Jahre später Italiens Regierungschef Silvio Berlusconi im Europa-Parlament so kritisierte, dass dieser sich dazu verleiten ließ, Schulz mit einem Kapo, einem Aufseher im KZ, zu vergleichen. „Ich habe genau gesehen, wie er Berlusconi provozierte“, sagt Jugendfreund Friedhelm Steinbusch. „So hat er das früher schon gemacht.“ Das Wortgefecht machte Schulz in Brüssel berühmt.

Steinbusch ist einer der engsten Freunde aus Jugendtagen. Er hat das wohl schwärzeste Kapitel in Schulz’ Leben miterlebt: seinen Absturz durch Alkohol. Schauplatz ist die Gaststätte Houben. Drinnen reihen sich Stühle um Holztische, darauf violette Usambaraveilchen neben Bierdeckeln in Plastikständern. Hinter der Theke stehen viele Flaschen mit Hochprozentigem, halb leer. Etwas abseits eine Weinflasche, ungeöffnet. Viel hat sich nicht verändert seit den 70er-Jahren. Ob Martin Schulz hier öfter gewesen sei? Die betagte Wirtin zieht die Augenbrauen hoch: „Der war hier Stammgast“, sagt sie. Aufgefallen sei er ihr damals wegen seiner Willensstärke. „Es ist ja auch beeindruckend, wie er sich später da rausgezogen hat.“

Bei Houben ging es hoch her in den 70er-Jahren, als die revolutionären Ideen der 68er sich auch bis Würselen herumgesprochen hatten. Hier trafen Jusos auf Anhänger der Jungen Union, jungsozialistische Falken auf den Männergesangverein Liederkranz, Kleingärtner auf Anarchisten. Trotzdem habe es nie ernsthaft Streit gegeben, dank der „Atmosphäre des Rheinlandes“, wie Steinbusch sagt.

„Das war eine wilde Zeit“, erinnert sich Steinbusch, der heute Rechtsanwalt ist und damals in der Jungen Union war. Es wurde diskutiert, gefeiert, geraucht, getrunken. Am Ende des Abends wurden Lieder gesungen, manchmal die Nationalhymne, häufiger „Hängt die Hohenzollern“ oder die „Internationale“. So rebellierte Würselen gegen das Establishment. Und Martin Schulz wohl auch ein Stück weit gegen die konservative, fromme Mutter. Bei Houben seien sie oft gewesen, sagt Steinbusch. Martin habe es genossen zu diskutieren, Stegreifreden zu halten, mit Parodien zu unterhalten. Und dass alle ihm zuhörten.

Elfte Klasse zweimal wiederholt

Die Eskapaden blieben in der Schule nicht unbemerkt, sie wirkten sich auf die Leistungen aus. Wolfgang Berthel kann sich gut an ihn erinnern, in Deutsch und Französisch habe er ihn unterrichtet. Er habe öfter Kontra gegeben und mit originellen Einfällen überrascht. Etwa, den Vatikan in die Nähe der UN zu verlegen. So etwas sei an dem katholischen Gymnasium nicht gut angekommen, sagt der 76-Jährige. Schwer habe sich Martin in Naturwissenschaften und Latein getan. Am Ende sei er spät oder gar nicht zur Schule gekommen. Zweimal wiederholte er die elfte Klasse und verließ die Schule. Doch der Direktor habe ihm eine Buchhändlerlehre vermittelt.

Diese Ausbildung ist es, die Schulz Halt gibt, als er am Tiefpunkt seines Lebens angekommen ist. In einer Biografie wird die Nacht des 26. Juni 1980 so beschrieben: Nach einer durchzechten Nacht sitzt er allein in seiner Wohnung und sagt zu sich selbst: „Du musst dich jetzt entscheiden: Entweder du gehst zugrunde, oder du hörst auf zu trinken.“ Von dieser Sekunde an habe er auch kein Bedürfnis mehr danach verspürt.

Die Familie habe ihm in dieser Zeit viel Halt gegeben, sagen Weggefährten. Bruder Erwin etwa, ein Arzt, und Schwester Doris, die mit Martin kurz darauf einen Buchladen eröffnete. Bis heute rührt Schulz keinen Alkohol mehr an. Anders als viele Politiker steht er zu dieser Phase seines Lebens.

Genauso wie zu seiner Heimat eben. In Würselen lebt er mit seiner Frau Inge, einer Landschaftsarchitektin. Dort wuchsen auch die beiden inzwischen erwachsenen Kinder auf. Inge mache kein Aufhebens von der Berühmtheit ihres Mannes, sagen sie im Ort. Wird sie gefragt, wie es Martin geht, antworte sie: „Gut. Aber er muss mehr Sport machen.“ Seine Jugendfreunde sagen, er wisse genau, was er an ihr habe.

Für Schultheis ist klar: Es wäre Martin Schulz eine große Ehre, in der Tradition von Willy Brandt die SPD zu führen. „Nach Ansicht der Basis hier ist Martin im Vergleich zu Gabriel der bessere Kanzlerkandidat.“

Und Außenminister? Neulich, da traf ihn ein Freund beim Bäcker und fragte: „Na, Martin, biste bald Außenminister?“ Und Martin habe geflachst, wie das eben unter Jugendfreunden üblich ist: „Biste verrückt, da muss ich ja mit dem Putin sprechen.“