Unglück vor Lampedusa: Europas blindes Auge

Italienische Soldaten bergen die Opfer des Schiffsunglückes: Mehr als 100 Menschen starben auf der Flucht nach Europa.
Italienische Soldaten bergen die Opfer des Schiffsunglückes: Mehr als 100 Menschen starben auf der Flucht nach Europa. Foto: dpa

Nach dem größten Flüchtlingsdrama seit Jahren vor der italienischen Küste sprechen sich immer mehr für einen Kurswechsel in der Einwanderungspolitik aus. Der Generalsekretär des Ökumenischen Rates der Kirchen, Olav Fykse Tveit, forderte „eine ernsthafte Demonstration politischen Willens“, um dem Sterben von Flüchtlingen im Mittelmeer ein Ende zu bereiten.

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Auch der Vorsitzende der katholischen Deutschen Bischofskonferenz, Erzbischof Robert Zollitsch, mahnte Konsequenzen an. „Der Umgang mit Flüchtlingen wird für uns Europäer immer mehr zum Test unserer Mitmenschlichkeit“, sagte er. Am Unglücksort gingen die Bergungsarbeiten weiter. 111 Leichen waren bis zum Morgen aus dem Mittelmeer geborgen worden, Hunderte weitere Tote wurden befürchtet.

„Das ist noch keine definitive Bilanz, weil Dutzende weitere Körper im Wrack des gesunkenen Bootes sind“, sagte Italiens Vize- Regierungschef Angelino Alfano. Die Helfer hatten ihre Arbeit trotz schlechten Wetters die gesamte Nacht über fortgesetzt. Am Morgen erreichte eine Fähre mit Särgen für die Opfer die Insel. Nur 155 der mindestens 400 Menschen an Bord des Schiffes konnten gerettet werden. Das voll besetzte Boot hatte vor der kleinen Isola dei Conigli bei Lampedusa Feuer gefangen und war gekentert.

Flüchtlinge hatten eine Decke angezündet, um Fischerboote auf sich aufmerksam zu machen, nachdem das Schiff einen Defekt gehabt hatte. Ein Fischer, der 47 Menschen rettete, schilderte dramatische Szenen: „Hunderte nach oben gestreckte Arme, Menschen, die versuchten, sich mit Plastikflaschen oder Fischkästen über Wasser zu halten, Hilfeschreie“, sagte er.

Einige Überlebende erhoben Vorwürfe gegen italienische Fischer, die ihnen nicht geholfen hätten. Lampedusas Bürgermeisterin Guisi Nicolini kritisierte die italienischen Gesetze: „Die Fischer sind weitergefahren, weil unser Land schon Prozesse wegen der Förderung illegaler Einwanderung gegen Fischer und Reeder geführt hat, nachdem sie Menschenleben gerettet haben.“ Für Freitag hatte Italien einen Tag der Staatstrauer ausgerufen, vielerorts sollte es Schweigeminuten geben.

„Heute ist ein Tag des Weinens“, sagte Papst Franziskus. „Wir alle empfinden Wut, Empörung, das Gefühl von Machtlosigkeit“, sagte Alfano. Solche Dramen könnten sich jederzeit wiederholen, betonte er. In diesem Jahr kamen nach seinen Angaben bereits 30 000 Flüchtlinge nach Italien. Staatspräsident Napolitano hat eine Änderung der Gesetze gefordert.

Eine schnelle Überprüfung von Normen, die eine Aufnahmepolitik verhinderten, sei nun notwendig, sagte er. „Es ist auch eine Frage von Mitteln, eine Frage des Eingreifens, eine Frage von Verantwortung und eine Diskussion, die absolut nicht nur italienisch sein kann“, sagte er. Viele italienische Politiker forderten mehr Unterstützung aus der EU.

„Dieses Meer bildet die Grenze zwischen Afrika und Europa und nicht zwischen Afrika und Sizilien, und deshalb muss sie mit Schiffen und Flugzeugen effektiver gesichert werden, als das momentan der Fall ist. So sinkt auch das Risiko von Toten“, sagte Innenminister Alfano. „Das ist ein europäisches Drama.“ Auch die deutsche Politik wurde von der Katastrophe aufgeschreckt.

Bundespräsident Joachim Gauck mahnte die Europäische Union, Flüchtlinge besser zu schützen, Menschenrechtsorganisationen forderten Deutschland auf, sich in der Flüchtlingspolitik stärker zu engagieren. Nach Jahren der Abschottungspolitik müsse sich die Bundesregierung nun entschieden für mehr Solidarität in der EU-Flüchtlingspolitik einsetzen, verlangte Amnesty International. Der Vorsitzende der Evangelischen Kirche Deutschlands, Nikolaus Schneider, verurteilte die Geschehnisse scharf.

„Das Unglück vor Lampedusa ist eine Schande für Europa“, sagte Schneider unserer Zeitung. „Wir müssen dringend unsere Hilfe verstärken und die Lasten fair verteilen.“ Die europäische Küstenwache müsse die Verpflichtung bekommen, Flüchtlinge in Seenot zu retten.

„Sonst droht Europa seine Seele zu verlieren.“ Der Vorsitzende des Menschenrechtsausschusses im Bundestag, Tom Koenigs, warf der EU Untätigkeit vor. Diese dürfe sich nicht darauf konzentrieren, nur die Grenzen zu schützen, sagte der Grünen-Politiker. Er forderte, Institutionen zu schaffen, die die Seenotrettung organisieren.

Außerdem müssten Schlepper stärker bestraft werden. Auch die Flüchtlingsorganisation Pro Asyl forderte offene Fluchtwege und die Öffnung der Grenzen. Der Präsident des EU-Parlaments, Martin Schulz, zeigte sich im Gespräch mit unserer Zeitung „schockiert“ und betonte, das Problem vor Lampedusa sei ein Problem aller EU-Mitgliedstaaten.

"Wir alle tragen gemeinsam Verantwortung und müssen eine Lösung finden und können Italien damit nicht allein lassen.“ Der Europapolitiker der SPD forderte, die Aufnahme von Flüchtlingen gerechter zu organisieren. „Dies ist keine Frage von Brüsseler Gremiendebatten, sondern eine Frage praktizierter Solidarität zwischen den Mitgliedsländern der EU und von humanitärer Verantwortung gegenüber den Flüchtlingen.“

Wer sehe, mit welchem Kraftaufwand Staaten wie Jordanien, Libanon oder die Türkei das Flüchtlingsdrama angingen, der könne über manche Debatten und Verhaltensweisen in der EU nur „entsetzt“ sein.