In Prag endet ihre Leidensgeschichte: Die Wiedervereinigung der Familie Blaha

Nicht nur am Zaun der bundesrepublikanischen Botschaft in Prag spielen sich Ende September 1989 emotionale Momente ab, die der ganzen Welt zu Herzen gehen. Unsere Zeitung hat zwei Familien aus Rheinland-Pfalz besucht, die 1989 über die Prager Botschaft in die Freiheit reisten. Wir erzählen ihre Geschichten.

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Von unserem Redakteur Christian Kunst

Das Mädchen klammert sich an das Zaungitter der Prager Botschaft. Fast scheint die sechsjährige Charis Blaha zu lächeln. Neben ihr weint ihre Mutter Sybille. Verzweifelt wendet sich die 27-Jährige ab. Charis steckt ihren Kopf zwischen die Stäbe, die Großmutter gibt ihr einen Kuss. Sie steht auf der Straße vor der Botschaft.

„Mein Engel. Wir sehen uns bald wieder“, flüstert sie. Ihre Tochter Sybille schluchzt. Es sind nur wenige Sekunden, die am Abend des 29. September 1989 im ZDF „heute-journal“ zu sehen sind. Besagte Szene zeigt dieses Youtube-Video zwischen Minute 4:23 und 5:59:

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Doch sie zeigen den Schmerz, die Hoffnungen, die Ungewissheit, die Verzweiflung der mehr als 4000 DDR-Bürger, die sich Ende September 1989 in die Prager Botschaft der Bundesrepublik geflüchtet haben.

Die Blahas sind schon eine zerrissene Familie, als Mutter Sybille mit ihren Eltern und den beiden Kindern Charis und Alexander Ende September 1989 nach Prag aufbricht. 1987 reiste Vater Jürgen Blaha, Oberarzt an der Klinik im thüringischen Meiningen, zur kranken Tante Traudel nach Bad Oeynhausen. Ein Vorwand. Er kehrte nicht zurück. Die Eltern hatten die Flucht minutiös geplant. Das Paar hofft auf eine baldige Familienzusammenführung. Die DDR-Behörden rechneten wohl nicht mit einer Flucht, schließlich hatte der Mann Familie. Sie täuschten sich.

„Der Papa kommt nicht wieder, wir sehen ihn aber bald wieder.“ 1987 hört Charis Blaha, die damals vier Jahre alt ist, dieses Versprechen das erste Mal.

Eine Zeit der Schikanen beginnt

Für die zurückgebliebene Familie beginnt eine Zeit der Schikane. „Einen Tag nach der Flucht meines Mannes kam die Stasi in unser Haus. Wir wurden vollständig verwanzt“, erinnert sich Sybille Blaha, die als Krankenschwester in der Klinik ihres Mannes arbeitete und heute in Langenlonsheim bei Bad Kreuznach lebt. Einmal pro Woche wird die damals 25-Jährige verhört. Später erfährt sie, dass die Stasi ihrem Mann bis in den Westen nachstellte, ihn offenbar sogar ermorden wollte.

Kurz vor der Flucht des Familienvaters: 1987 lassen sich Jürgen, Mutter Sybille und die Kinder Alexander (3) und Charis (4) ablichten.

Abschied von der Oma: Die sechsjährige Charis Blaha gibt ihrer Großmutter am Zaun der Prager Botschaft einen letzten Kuss.

In Freiheit (von links): Charis, Sybille und Alexander Blaha. Die Eltern sind geschieden, sind aber nach der Prager Zeit immer noch tief verbunden.

So sieht es auf dem Gelände der Prager Botschaft am 29. September aus, als Sybille Blaha dort mit ihren beiden Kindern ankommt.

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Die Familie stand schon immer unter Beobachtung. Denn die Blahas sind eine bürgerliche Familie im Sozialismus. Keiner ist in der Partei, die Kinder getauft, Jürgen Blaha und sein Bruder sind Akademikerkinder – der Großvater ist auch Arzt -, und doch dürfen sie studieren. Seltenes Glück im Arbeiter- und Bauernstaat.

Die Familie lebt in einer Parallelwelt, in die der Staat immer wieder einzudringen versucht. Charis und ihr Bruder flüchten sich oft zu den Eltern ihrer Mutter. Die haben auf dem Land nahe Meiningen ein eigenes Haus, der Großvater ist Künstler, die Oma Selbstversorgerin. „Es gab dort nie Mangel“, sagt Charis.

Dass es ihren Eltern an Freiheit mangelt, spürt sie nur. Kurz vor der Flucht des Vaters kommt sie in den Kindergarten. Dort fragen die Erzieherinnen das getaufte Mädchen aus, ob es denn wirklich an Gott glaube. Sie weiß nicht, was sie antworten soll. Als ihre Mutter davon hört, nimmt sie ihre Tochter aus dem Kindergarten. Nach der Flucht des Vaters erhöht der Staat den Druck. Erst verliert Sybille Blaha das Auto, dann das Telefon – Privilegien eines Arztes, der jetzt republikflüchtig ist, so die Lesart der DDR-Oberen. Der dreijährige Alexander bezahlt dies fast mit seinem Leben. Er verschluckt sich eines Tages an einem Bonbon, läuft blau an. Seine Mutter reagiert panisch, weil sie ihn nicht in die Klinik fahren oder einen Arzt anrufen kann. Erst als sie ihn fest an sich drückt, fliegt der Bonbon durch die Küche, erinnert sich seine Schwester.

Das für DDR-Flüchtlinge aufgebaute Zeltlager in der völlig überfüllten Botschaft der Bundesrepublik Deutschland in Prag (Archivfoto von September 1989). In die westdeutsche Botschaft flüchteten Schätzungen zufolge über 20.000 Ostdeutsche. Ihr Ziel: Die Ausreise in die BRD.

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Blick auf eine Gedenktafel mit den Worten des ehemaligen Bundesaußenministers Hans-Dietrich Genscher (FDP) am Balkon der Deutschen Botschaft in Prag am 06.05.2009. Genscher sprach am 30. September 1989 kurz vor 19 Uhr vom Balkon die erlösenden Worte zu den DDR-Flüchtlingen: «Wir sind zu Ihnen gekommen, um Ihnen mitzuteilen, dass heute Ihre Ausreise...» Dass sie in der Tat möglich geworden war, ging im Jubel unter.

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Blick auf den Garten und den Balkon auf der Rückseite der Deutschen Botschaft in Prag. Die Botschaft ist einer der Orte, an denen tatsächlich Geschichte geschrieben wurde. Das Palais Lobkowicz in Prag zählt zu den imposantesten Barockpalästen der tschechischen Hauptstadt.

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DDR-Flüchtlinge stehen vor Versorgungs-Zelten des DRK im Innenhof der deutschen Botschaft in Prag.

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DDR-Flüchtlinge stehen vor der deutschen Botschaft in Prag.

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Irgendwann in dieser Zeit muss der Gedanke entstanden sein, den Charis Blaha heute so beschreibt: „Meine Mutter hat immer gesagt: Meine Kinder gehen hier nicht zur Schule.“ Im August 1989 wird Charis eingeschult – sie bleibt nur für sechs Wochen. Am 29. September, einem Freitag, sagt Sybille Blaha zu ihren Kindern: „Wir machen einen Campingurlaub.“ Ein verlängertes Wochenende in der CSSR. „Ich habe mich total gefreut“, erinnert sich Charis, „und meine blaue Tasche gepackt. Ich habe eine Puppe, Klamotten und ein Märchenbuch hineingelegt.“

Die Idee für die Flucht über Prag kommt von Sybille Blahas Bruder. An diesem Tag treffen sich beide im Garten – das Haus ist nicht sicher -, und der Bruder sagt: „Ich fahre euch nach Prag. Pack alles ein, was wichtig ist, was aus dem Haus rausmuss.“ Wenig später fahren sie mit zwei Autos, die Mutter mit ihrem Bruder, die Kinder mit ihren Großeltern, in Richtung Grenze. Dort fragen die Grenzer den kleinen Alexander, wo es denn hingeht. Er sagt: „Zum Papa.“ Den Großeltern stockt der Atem. Doch sie dürfen weiterfahren. Das Auto von Sybille Blaha nehmen die Grenzer hingegen völlig auseinander. Doch das wenige Gepäck wirkt nicht verdächtig. Sie dürfen weiterfahren.

In Prag sind sie zunächst orientierungslos. Dann sprechen sie einen Taxifahrer an. Der Großvater bittet ihn: „Fahr vorweg zur Botschaft.“ Als Dankeschön bekommt der Taxifahrer eines der Kunstwerke, die der Großvater hergestellt und zum Schachern im Kofferraum dabeihat. Die Familie nimmt Abschied, isst ein letztes Mal in einem Restaurant zusammen. Zu Fuß geht es dann durch ein Waldstück zur Botschaft. Dort steht überall die Staatssicherheit der CSSR. Irgendwann ergibt sich die Gelegenheit: Sybille Blaha klettert über den Zaun, ihre Großeltern heben Alexander und Charis herüber. Die Großeltern bleiben auf der Straße, wollen zurückfahren. „Das war der Moment des Abschieds. Man wusste doch nicht, wann man sich wiedersieht. Die Hoffnung, meinen Mann wiederzusehen, stand auf der einen Seite. Die Familie zu verlieren, auf der anderen. Das war traurig“, erzählt Sybille Blaha unter Tränen.

Die 27-Jährige ist mit ihren Kindern in der Botschaft, aber noch nicht in Freiheit. Tausende DDR-Bürger drängen sich auf dem engen Gelände. „Es waren katastrophenartige Zustände“, sagt Sybille Blaha. Ihre Tochter sagt: „Ich hatte mir das mit dem Campingurlaub ein wenig anders vorgestellt, auch wenn da Zelte im Garten der Botschaft standen.“ Sie lacht. Dass damals alle weinten, verstand sie nicht. „Wir sind doch in ein paar Tagen wieder zu Hause, habe ich gedacht.“

Bruder gibt Interviews

Es ist ein nasskalter Nachmittag, als die Mutter mit ihren Kindern durch den Schlamm in die Botschaft geht. Für Charis ist es ein Abenteuer, ihr Bruder rennt herum, gibt Reportern am Zaun sogar Interviews. Im Gebäude liegen die Menschen zu zweit auf den Stufen. Im überfüllten Kuppelsaal campieren Hunderte auf dem Boden. Die Familie verbringt Stunden mit Anstehen bei der Essensausgabe des Roten Kreuzes und vor der einzigen Toilette.

Nach der ersten Nacht stellt die Botschaft Stockbetten in den Saal. Sybille Blaha und ihre Kinder legen ihre Sachen auf ein Bett ganz nah am Balkon. Als es dämmert, spricht sich herum, dass Außenminister Hans-Dietrich Genscher kommen will. Kurze Zeit später gehen Genscher und sein Gefolge nah an den Blahas vorbei zum Balkon. Sybille Blaha, die im Saal nichts hören kann, reißt das Fenster auf und streckt ihren Kopf heraus. Als sie Genschers Worte hört, dreht sie sich um, greift die Hände ihrer Kinder, geht raus, vorbei an jubelnden Menschen, setzt sich in den Bus, der die Flüchtlinge zum Zug bringt.

In der Nacht fährt der Zug in den Bahnhof im bayerischen Hof. Am Gleis stehen Hunderte, vielleicht Tausende jubelnde Menschen. In der Familie erzählt man sich, dass Sybille Blaha aus dem Fenster guckt und ihren Mann sofort sieht. „Damals“, sagt Charis Blaha, „habe ich meinen Vater das erste Mal weinen sehen.“

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